Entspannte Gartenparty mit 6000 Freund*innen


Interview mit dem appletree garden 2022


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Henrike Schröder

Isabel Roudsarabi

Till Petersen

Wie groß kann ein idyllisches Indie-Festival werden, bevor es der Idylle entwächst? Diese Frage haben wir uns beim 20. Jubiläum des appletree garden gestellt und uns von Lisa Canehl und Dirk Gieselmann durch die Historie und die neuesten Entwicklungen führen lassen.

Hier in Diepholz ist die Welt in Ordnung. Tiny Wolves spielen „Africa“ von Toto (der Cajon Spieler des Kinderchors hat gerade die Zusage für’s Medizinstudium bekommen), die Sonne scheint durch die Lichtung und im Augenwinkel sieht man stets glitzerndes Flatterband im milden Wind wehen. Heiler als beim appletree garden kann die Welt nicht sein.
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Mit Lisa Canehl und Dirk Gieselmann sitze ich im Backstage-Bereich. Auch hier flattert glitzerndes Fludderband durch die Gegend, wir sitzen an einer Bierzeltgarnitur, vor mir eine Flasche Ratsherrn Pils. Lisa ist seit 2014 beim appletree garden. Erst schrieb sie die Texte für das Programmheft, dann kam Social Media hinzu, weitere Texte für die Website und und und. Mittlerweile ist sie neben Gründer David Binnewies die einzige Festangestellte, im Kern für alles rundum Kommunikation zuständig. Aber eigentlich macht sie mittlerweile gemeinsam mit David die Veranstaltungsleitung, erklärt sie. Dirk hat das Festival vor 20 Jahren mit gegründet, sich aber schon länger aus der Organisation zurückgezogen. Das Line-up des Festivals ist mittlerweile an seinem Musikgeschmack vorbeigezogen, das ist für ihn allerdings nebensächlich. „Wenn ich hier bin, ist es nach einer Stunde in mich gedrungen: alles Neue, alles Bekannte, der ganze Puls, die Vibration des Festivals“, erklärt er. Was das genau bedeutet, dröseln wir hier auf.
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Lisa Canehl & Dirk Gieselmann

„David, lass uns das bei dir im Garten machen!“ – Dirk

Die Anfänge des Festivals kann wohl jede*r, der/die auf dem Land groß geworden ist, nachvollziehen. Um die Jahrtausendwende sterben in und um Diepholz nach und nach die Clubs aus, als Jugendliche*r weiß man nicht wohin mit sich, denn Stufenfeten finden eben nur einmal im Monat statt. Es gibt keinen Treffpunkt, aber eigentlich Platz ohne Ende für ein Festival. „Und dann hatte jemand die grandiose Idee zu sagen: ‚David, lass uns das bei dir im Garten machen‘,“ erzählt Dirk. David findet den Plan am Anfang nur mäßig gut, wird aber dazu gedrängt, seine Mutter Doris zu fragen, die zustimmt. 
appletree garden 2022
„2001 fand das erste Festival auf dem Kartoffeln-Anhänger mit Bands aus dem Jugendfreizeitzentrum statt. Wir haben uns damals den hochtrabenden Namen Verein zur Förderung der Jugendkultur gegeben. Das war auch durchaus ernst gemeint. Wir wollten Bands hier aus der Region eine Plattform geben,“ erklärt Dirk. Das Festival ist eintägig und die Besucher*innen setzen sich aus dem erweiterten Freundeskreis zusammen – „200 Leute, die wir uns schönredeten zu 400“. So geht das zwei bis drei Jahre weiter. „Im Freundeskreis haben wir uns immer ungefähr zwei Wochen vorher getroffen und aufgebaut. Und alle, die sich nicht komplett weggeflext haben, haben auch wieder mit abgebaut und aufgeräumt. Es war ja immerhin Doris Garten, den konnten wir nicht so hinterlassen.“ 
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2005 wird der Kartoffel-Anhänger gegen eine richtige Bühne getauscht, die Acts kommen mittlerweile auch aus Münster und Köln und manche machen sogar einen Soundcheck. „Damals haben wir gemerkt, dass wir nicht mehr nur in unserem eigenen Saft schmoren. Das Festival öffnet sich. Langsam kamen auch Leute mit fremden Kennzeichen“, erzählt Dirk.   

Die Zäsur, aka. ein Laptop muss her

Die Historie des Festivals kann man am Jubiläumswochenende in Ruhe ablaufen. Von allen Ausgaben sind die Plakate ausgestellt und zeigen, wie nicht nur das Line-up umfänglicher und bekannter wird, sondern auch, wie sich die Gestaltung und Partner des Festivals verändern. „Ich habe gestern vor dieser Wand gestanden und überlegt: Wann gab es die Zäsuren? Wann hat David spüren lassen, er will höher hinaus?, erzählt Dirk. "Das war der Tag, an dem er zu uns gesagt hat: ‚Ich brauche einen Laptop!’“
appletree garden 2022
Mit dem Laptop folgt auch der Umzug von Cornau in den Diepholzer Bürgerpark. Aus einem werden zwei Festivaltage, die Besucher*innenanzahl verdoppelt sich auf über 1000 und auch die Musikauswahl verändert sich: weniger JFZ-Bands, mehr Timid Tiger, The Robocop Kraus, Friska Viljor und Bonaparte. Der Verein wächst und wird um eine GmbH erweitert, um das Festival weiter zu professionalisieren. „Aufgegeben wurden dabei die Vereinssitzungen – basisdemokratische Qualveranstaltungen für alle“, erzählt Dirk. „David musste Entscheidungen treffen. Wenn man dabei Rechenschaft gegenüber Leuten ablegen muss, die sich mit der Materie gar nicht beschäftigt haben, weil es für sie bestenfalls ein Hobby ist, dann fährt man in eine Sackgasse. An die Stelle dieser Sitzungen sind Workshops getreten, als offener Gedankenaustausch.“

„Am Ende geht ja alles vom Team aus“ – Lisa

2022 findet das appletree garden dreitägig auf vier Bühnen, mit umfangreichem Rahmenprogramm, insgesamt 60 Acts, 6000 Besucher*innen und 400 freiwilligen Helfer*innen statt. Trotzdem steckt die anfängliche Idee von einer Gartenparty unter Freund*innen fest in den Köpfen von Lisa und Dirk.
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„Für mich ist das immer noch ein ganz intensives Familientreffen. Und ich habe das Gefühl, dass es vielen so geht“, meint Dirk.
appletree garden 2022 Team
v.l.n.r. David Binnewies, Maja Henke, Lisa Canehl, Dirk Gieselmann, Helin Tas
„Am Ende geht ja alles vom Team aus, weil alles daraus gewachsen und daran angedockt ist“, erklärt Lisa. „Und das ist bei uns sehr, sehr stark, weil teilweise Leute dabei sind, die das seit 20 Jahren gemeinsam machen. Viele sind zwar nicht mehr aktiv dabei, aber kommen trotzdem jedes Jahr mit ihren Familien und Freund*innen. Und auch die Eltern kommen, machen Essen und helfen beim Aufbau.“ So ist Davids Bruder – mittlerweile Polizist in Hannover – immer noch für die Bars verantwortlich, Dirks Frau macht das Design und der Patenonkel seiner Kinder veranstaltet gemeinsam mit den Kindern das appletree garden Fußballturnier. Und diese Liste könnte man vermutlich endlos weiterführen. „Ich weiß nicht, ob das normal ist“, meint Lisa. „Ich bin nicht auf dem Land aufgewachsen. Ich finde es jedes Mal krass, wie diese Strukturen funktionieren.“ Auf dem Dorf kennt man schließlich immer jemanden, der die passende Lösung hat – egal ob gerade ein Trecker oder ein Blech selbst gebackener Butterkuchen und 10 Pumpkannen Kaffee gebraucht werden.

„Die Beziehung zu Diepholz ist zwar nicht enthusiastisch, aber das wäre auch nicht typisch für Diepholz.“ – Dirk

„Es gibt eine enge Beziehung zwischen Diepholz und dem appletree garden und die kann man nicht ausradieren“, erklärt Dirk. „Es ist aus einem diepholzer Freundeskreis entstanden und nicht von ungefähr hier gelandet. Deswegen wird es auch hier bleiben. Die Beziehung zu Diepholz ist zwar nicht enthusiastisch, aber das wäre auch nicht typisch für Diepholz.“ Lieber ist den Diepholzern dann doch ihr Schützenfest. Das findet nicht nur am gleichen Standort statt, das Gelände wird auch von den Schützen verpachtet. „Was David besonders gut kann ist Brücken zu bauen: zwischen den Schützen, einer Gruppierung, von der wir uns immer bewusst abgesetzt haben und uns, einer Gruppe die wiederum den Schützen vorkommt, wie irgendeine seltsam bizarre Subkultur“, erklärt Dirk.
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Doch nicht nur die Schützen, sondern die ganze Stadt versucht David mit einzubeziehen. Es gibt einen „Tag der offenen Tür“, an dem David interessierte Einwohner*innen über das Festival führt, kleine Geschenktüten werden als Entschädigung in den umliegenden Siedlungen verteilt und es gibt ein Kontingent an vergünstigten Tickets für Anwohner*innen. „Ob sie jetzt kommen oder nicht, sie sind schon froh, wenn die Bimmelbahn mit lauter bunten jungen Leuten morgens durch die Stadt fährt und wenn im Freibad und in der Eisdiele mal was los ist. Diepholz war eine schmucke Kleinstadt, hat aber mittlerweile ein totes Herz“, erzählt Dirk.  
Eine Beziehung mit einer Mischung aus typisch ländlicher Skepsis, neugieriger Faszination und der auf dem Dorf so unabdingbaren Hilfsbereitschaft – auch das kennt vermutlich jede*r, der/die auf dem Land groß geworden ist. So organisierte der Bürgermeister, als es vor einigen Jahren ein monsunartiges Unwetter gab, ohne zu Zögern etliche Busse, um die Besucher*innen in der Turnhalle der Stadt unterzubringen. Aber dass sein Haus so nah am Festivalgelände steht ist bei der Lautstärke dann doch eher ungünstig.    
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"Ich kenne so viele Leute, die immer mit der gleichen Crew an der selben Stelle zelten und jedes Jahr die gleichen Stäbe hochhalten – Lisa

Für die Gründer*innen und Veranstalter*innen des Festivals ist das appletree garden Klassentreffen, Familienfeier – eben das Event im Jahr, wo man alle wieder trifft, zurück Zuhause. Und dieses Gefühl scheint sich auch auf die Besucher*innen zu übertragen. Obwohl Diepholz nicht die eigene Heimat, Familie oder Abschlussklasse darstellt, stellt es den Rahmen für eine kleine familiäre Gartenparty unter Freund*innen. Das zeigt sich besonders an der enormen Dichte an bunt dekorierten Tüddelstäben, die es einem fast unmöglich machen, die Konzerte auf der Bühne zu verfolgen. „Ich kenne so viele Leute, die immer mit der gleichen Crew an der selben Stelle zelten und jedes Jahr die gleichen Stäbe hochhalten“, erzählt Lisa. „Daran erkennt man sich direkt wieder.“ Bei einer Gartenparty dieser Größe sind sie die kreative Lösung, alle Freund*innen beisammen zu halten. Und das wird umso wichtiger, je größer das Festival wird. 
appletree garden 2022
Aber was die Größe angeht, ist das Festival mittlerweile am Limit angekommen. In diesem Jahr kam die vierte Bühne, das tiefe Holz (eigentlich eine Corona-Idee, um des Wegfall des geschlossenen Spiegelzelts auszugleichen) noch hinzu, aber das war’s jetzt.
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„Wir können gar nicht weiter wachsen“, erklärt Lisa.
„Seit wir auf diesem Gelände sind, haben wir die gleiche Fläche für den Campingplatz. Dadurch sind wir schon begrenzt. Aber selbst wenn wir 2000 Leute mehr hätten, glaube ich nicht, dass das aus Besucher*innen-Perspektive was verändern würde. Dieser Spirit, diese Atmosphäre und dieses liebevolle und respektvolle Miteinander ist ziemlich stabil.“ Auch deswegen, weil sich das Festival mit den Besucher*innen ständig weiterentwickelt. „Damals hieß es: Hauptsache laute Musik; ‚Smells like Teen Spirit‘ auf Flugzeug-Lautstärke. Das hat uns in die Umlaufbahn versetzt, in der wir uns heute noch befinden“, erzählt Dirk. Seine Sonnenbrille hat er das ganze Interview über nicht abgenommen – die Lederjacke und ein appletree garden Cap unterstreichen seine Aussage perfekt. „Aber mittlerweile ist es auch manchmal ein bisschen leiser. Man möchte mal zuhören und die Augen schließen. Dafür gibt es Yoga, Lesungen und Oasen, in denen man sich einfach nur unterhalten kann.“
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Die Gratwanderung zwischen Weiterentwicklung und Tradition

Also woraus besteht jetzt die Vibration, der Puls des Festivals? Vielleicht ist es die Mischung aus Weiterentwicklung und Festhalten, die ständige Diskussion darüber, wie man im Kern gleich bleibt, sich aber trotzdem verändert. Der alte Freundeskreis und die neue Generation an Freiwilligen, die Bock hat ihren Jahresurlaub darauf zu verwenden, aus dem Diepholzer Bürgerpark eine Familienfeier zu machen. „Es gibt sehr viele Festivals, die noch an dem Modell ‚Wir machen das schon immer so‘ festhalten. Bei denen sieht man jetzt, dass sie eher strugglen, ihre Tickets los zu werden“, führt Lisa aus. „Wenn dieses Festival sich nicht weiterentwickeln würde und wir uns nicht immer neue Aspekte und Herausforderungen schaffen würden, dann wäre auch beim Team irgendwann die Luft raus.“ 
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„Wenn dieses Festival sich nicht weiterentwickeln würde und wir uns nicht immer neue Aspekte und Herausforderungen schaffen würden, dann wäre auch beim Team irgendwann die Luft raus.“
Deswegen ist dieses Jahr ebenfalls neu: Cashless. Auf dem gesamten Festivalgelände wird nicht mehr bar bezahlt, sondern mit einem Chip, der am Festivalbändchen integriert ist und vor und während des Festivals mit Geld aufgeladen werden kann. Mit ein Grund für die Umstellung: die, die sonst immer die Kasse gemacht haben, haben während Corona Kinder bekommen. „Diese Umstellung kam mir schon wie eine Gratwanderung vor. Wirkt das kommerziell oder unsympathisch?“ erklärt Lisa. „Das ist natürlich ein Moment, in dem eine persönliche Beziehung verloren geht,“ meint auch Dirk. „Bis letztes Jahr ist die Kassenwärtin abends mit dem Sparschwein durch den Wald gelaufen und ihr Vater hat zu Hause das Geld gezählt. Da fragt man sich schon: Was bedeutet das jetzt? Es ist natürlich sinnvoll, dass sie nicht mehr mit dem Sparschwein rumläuft, aber es darf und wird nicht passieren, dass oben drüber appletree garden steht und dahinter verbergen sich nur noch fremde Dienstleister.“ 
appletree garden 2022
Wenn man sich all die Geschichten, Hintergründe und Überlegungen anhört, hat man allerdings auch nicht das Gefühl, dass diese Gefahr besteht. Die meisten Veränderungen ergeben sich aus dem Team heraus, fein ausgelotet und so natürlich umgesetzt, als hätten sie sich einfach so ergeben. Als würde man sich überlegen, für die anstehende Familienfeier die alte abgeranzte Markise endlich gegen einen neuen, größeren Pavillon zu tauschen, damit noch mehr Cousins, Cousinen und Freund*innen drunter passen.