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Von Held*innen, die den Molton hängen

Mental Health in der Festivallandschaft


Die Tischplatte vibriert, das Display leuchtet auf. Und dann nochmal. Als ich mich nach Interviewpartner*innen zum Thema Mental Health in der Musik- und Festivalbranche umschaue, steht mein Handy nicht mehr still.

text Lara Gahlow
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Dominik Wagner, Florian Anhorn, Jean-Paul Pastor Guzmán, Kathrin Leisch

lesezeit 10 Minuten

Es melden sich: Musikschaffende, Veranstaltende von Volunteers- bis Führungsposition und Freund*innen, die sofort an Betroffene aus ihrem Umfeld denken. Mit einer Mischung aus Schock und Bestätigung – und erfreut über die hohe Gesprächsbereitschaft – nehme ich mich dem Thema an. Was ich sofort merke: Auch in dieser Hinsicht ist die Branche etwas Besonderes … und das Problem bereits Teil einer Lösung.

Berichte, Statistiken, Erzählungen – Beschreibungen der Festival- und Musikbranche lesen sich wie ein Handbuch nicht für, sondern gegen mentale Gesundheit. Zunächst wären da die Arbeitszeiten: Gerade während der Sommermonate trudeln permanent Mails ein, während das Handy klingelt und der Teamchat 97 neue Nachrichten anzeigt. Dieser Strudel aus Anfragen und Anfragenden, Nachrichten und Planänderungen macht weder vor späten Abendstunden noch vor Wochenenden oder gar einem deklarierten Urlaub Halt. Das kennt auch Markus Blanke, Veranstalter und Gründer diverser Festivals und einer der treibenden Kräfte des Festival Kombinats. Er spricht mit mir über das Tempo der Branche: „Ich bin nicht multitaskingfähig und habe trotzdem immer mindestens zwei Sachen gleichzeitig gemacht. Wenn ich telefoniert habe, habe ich parallel eine Tabelle kontrolliert. Wenn ich in einem Call war, habe ich zeitgleich eine Mail zu Ende getippt.“ Hinzu mischen sich oft ein harter Tonfall, exzentrische Persönlichkeiten und Druck, so stark wie ein gut geschütteltes Dosenbier. 

Von Henne, Ei und Motte

Dieser Druck bleibt nicht ohne Folgen: Menschen in der Musikbranche leiden bis zu dreimal häufiger an Angststörungen oder Depressionen als die Allgemeinheit (Christine Brown, Director of External Affairs, Help Musicians UK). Und wer nun nach der Henne und dem Ei fragt, dem sei gesagt: Psycholog*innen bestätigen, dass die mentale Belastung durch die Branche hervorgerufen wird  – es ist nicht so, dass Menschen mit besagten Diagnosen sich wie die Motten magisch vom Rampenlicht angezogen fühlen. Denn stehen Bands erstmal darin, wird ihnen nach kleinen kreativen Tiefphasen oft direkt der Rücken gekehrt. Es gibt Musiker*innen, die sich medial und im Backstage mit anderen vergleichen oder mit dunkel unterlaufenen Augen auf den nächsten EP-Release blicken. Vivian Hoyer, eine Hälfte des deutschen Drama-Pop-Duos Flirt, weiß zu berichten: „Man könnte theoretisch 24/7 etwas machen, weil du gerade am Anfang alles selber machst. Da bist du deine eigene Managerin, deine eigene Bookerin, deine eigene PR-Frau – das ist ein wahnsinniger Workload.“ 

Motiv: Überzeugungstäter*in, Tatwerkzeug: Noch eine Schippe drauf

Neben Veranstaltenden und Musikschaffenden sind da noch die Festivalteams, die ihre gesamte Arbeits- oder Freizeit in die Organisation eines Wochenendes stecken, das von einem Wirbelsturm oder Shitstorm zunichte gemacht werden kann. Gerade Kreative vermischen hierbei ihre Person und Tätigkeit, Kollegium und Freundeskreis und am nächsten Morgen Katerfly mit Wasser. Als Überzeugungstäter*innen sind Inbrunst und grenzenloser Bock auf Festival ihr Ansporn und zum Beispiel auch der Grund, sechs Wochen lang an einem See in Brandenburg 20 Stunden am Tag zu arbeiten.

„Leute haben sich gewundert, dass ich keine Drogen nehme. Die Droge ist dieser Tunnel. Immer mehr, immer noch eine Schippe drauf, dieses Adrenalin, heute noch mehr zu schaffen“

beschreibt Markus Blanke seinen Tatendrang. Diese Energie ist nicht per se schlecht, betont Jacob Bilabel, unter anderem Gründer der Green Music Initiative und der Good Life Academy, Branchenkenner und Interviewpartner mit klarer Stimme zur Sache. Stress ist nicht nur ungesund und das Verlassen der eigenen Komfortzone durchaus gut. Er sagt: „Es ist total okay, den Akku manchmal zu erschöpfen – aber man muss ihn dann auch wieder aufladen.“ Dieses Wissen kommt bei Jacob Bilabel nicht von ungefähr. Denn auch er arbeitete lange über seinem Limit, bis seine Freundin ihm den Spiegel vorhielt. „Ich hätte noch ewig weitergemacht – ich fühlte mich stark, ich fühlte mich blendend.“ Als er mir davon erzählt, nicke ich und unterstreiche eine handgeschriebene Notiz: die eigenen Grenzen (er)kennen. Gar nicht so einfach.

Wenig Schotter, viel Schleppen: Psychische und physische Belastungen im Festivalalltag

Und dann wäre da das liebe Geld: Oft bleibt wenig oder gar kein Schotter nach einer Saison, in der man Bauzäune über ebenjenen geschleppt hat. „Wir beim lunatic arbeiten alle komplett ehrenamtlich – vor allem aus dem Wunsch heraus, praktische Erfahrungen zu sammeln und weil es einfach Spaß macht. Schwierig ist, dass ich mich am liebsten stundenlang damit beschäftigen würde und trotzdem Ausgaben im Leben habe“, erklärt Saskia Lorenzen-Schmidt. Sie trägt Verantwortung in den Bereichen Marketing, Sponsoring, PR und Merchandise beim Campusprojekt aus Lüneburg. Spätestens mit ihrer ergänzenden Tätigkeit im Vorstand des lunatic e. V., dem Alumni-Verein des studentisch organisierten Festivals, wird klar, dass ihre Aufgaben eine 40-Stunden-Stelle locker füllen könnten – und zeitweise auch taten. 

Während finanzielle Sorgen ein Ballast für den Geist sind, wartet das wilde Festivalleben auch noch mit Hürden für den Körper auf. Es dominieren wenig Schlaf, schweres Schleppen, ungesundes und unregelmäßiges Essen sowie der oft tagtägliche Konsum von – nennen wir es – Spaßbringern bis hin zum Missbrauch. Wenn dann nach einem durchtanzten Sommer noch das Post-Festival-Tief grüßt, wissen wir, warum „Mental Health“ als Podiumsthema Nr. 1 rangiert. Vivian Hoyer spricht Klartext: „Auf Tour schläfst du wenig, siehst tausend Leute, musst, wenn es schlecht läuft, alles selbst organisieren, zahlst vielleicht sogar drauf und spielst am Ende vor drei Leuten.“ Aua.

Burnout statt Burning Man: Wie erkenne ich Symptome?

Wer in der heiß umkämpften Branche zu lange macht – Samstagnacht, aber eben auch den Rest der Woche – mag irgendwann Symptome spüren, die stressbedingt auftreten. Physische Belastungen wie Schlafstörungen oder Magenschmerzen gehören hier genauso dazu wie sozialer Rückzug oder eine gereizte Antwort, weiß Anne Löhr, Psychologin und Mitbegründerin des Verbandes Mental Health in Music. Die Symptome sind hierbei sehr individuell – in Form, Häufigkeit und Intensität.

„Anfänglich habe ich gemerkt, dass ich mich nicht mehr ganz so gut konzentrieren konnte. Danach konnte ich nichts mehr gleichzeitig und dann gabs halt diesen Moment, an dem ich aus dem Nichts angefangen habe, zu heulen“

heißt es im Interview mit einem Veranstaltenden im Dauerstress. Manchmal ist es dann schon zu spät: Burnout statt Burning Man. Expertin Anne Löhr erklärt: „Es ist sehr wichtig, dass ich als Einzelperson sensibilisiert bin für meine Stimmung, Überarbeitungsmomente und Symptomatiken, die damit einhergehen. Ich muss über sie Bescheid wissen und sie auch erkennen.“  So wie Marie Feiler, die als Solo-Singer-Songwriterin, aber auch als Psychologieabsolventin über das Thema Mental Health mit mir spricht: „Wenn ich schlecht schlafe, kann ich anfangen zu suchen, was gerade nicht rund läuft.“ Nach der Erkennung folgt die Evaluation der Möglichkeiten: Gehe ich nun in die Selbstfürsorge? Brauche ich eine Pause? Sage ich „Nein“ zur nächsten Aufgabe, die vermeintlich nicht warten kann? Doch auch hierfür braucht es gewisse Bedingungen.

Am Anfang steht der Austausch: „Da muss man keine Gruppentherapie draus machen“

Oft bestünden in Teams bereits viele kleine und große Maßnahmen für die mentale Gesundheit, bestätigt Anne Löhr, die diese in Coachings herauskitzelt. „Insbesondere der Austausch im Team ist zentral, um vom Problem- in das Lösungsdenken zu kommen“, resümiert sie. Und diesen Austausch kann es nicht früh genug geben. Denn erst, wenn persönliche Probleme im Dialog nicht als Einzelfall, sondern als systemische Probleme erkannt werden, kann ein Bewusstsein für die „systemischen Mausefallen“ entstehen, wie Jacob Bilabel sie nennt.

Ein Fokus auf Mental Health im eigenen Team heißt dabei nicht, über die eigene Angststörung, Depression oder Überarbeitung zu reden. Niemand muss sich zu seinen oder ihren intimsten psychischen Befindlichkeiten äußern.

So hilft bereits ein ernstgemeintes „Wie geht’s dir?“, am besten in regelmäßigen Runden, bei denen die Arbeit mal an zweiter Stelle steht. „So können Menschen ihre Probleme anmelden, wenn es noch gar nicht so schlimm ist“, sagt Anne Löhr, die das als spielerisches und niedrigschwelliges Element sieht, mit dem Teams langsam ein Umdenken etablieren können. Einfach mal alle zwei bis vier Wochen einen Extra-Call einlegen – das ist am Ende eine Frage der Priorität. Denn wer zu gestresst ist, um über Stress zu sprechen, wird in schwierigen Situationen kaum verständnisvoll auf Teammitglieder reagieren können.

Was nicht funktioniert? Der Satz „Ich bin der Chef und ihr könnt immer zu mir kommen, wenn euch etwas bedrückt“, führt in den seltensten Fällen zum Ziel. Denn eine Austauschkultur muss ins Team gegeben werden und sollte nicht aktiv eingefordert werden müssen – denn die Verantwortung für die mentale Gesundheit liegt immer auch im Team, nicht nur bei der Einzelperson. Das funktioniert auch innerhalb des eigenen Gewerkes: „Ich habe angefangen, mich mit anderen Musiker*innen auszutauschen: Über die Drucksituation und die Zweifel, die man hat“, erzählt Marie Feiler, die auch in einem Start-up für Mental Health und Prävention arbeitet.

Lösungen so individuell wie die Menschen, die sie erdenken

Es ist Zeit für gute Nachrichten, beschließe ich und spreche mit allen Interviewten über Lösungsansätze für ihre persönlichen Herausforderungen. Eines steht fest: In der Festivallandschaft tummeln sich Idealist*innen und Menschen mit Leidenschaft, die für Musik und Kultur brennen. Obwohl genau diese starke Identifikation und Überzeugung zu Überarbeitung führt, bürgt sie mindestens genauso viel Potenzial.

„Es gibt natürlich keine Lösung, die für alle funktioniert, aber die Branche ist sehr kreativ“

weiß Anne Löhr. Es ist also an der Zeit, die eigene Kreativität nicht nur dafür zu nutzen, wenn das Gaffa-Tape aus geht oder der Headlinerbus im Schlamm feststeckt. Und dieser Prozess hat bereits begonnen: Wenn Vivian im extrovertiert-buntem Outfit auf die Bühne tritt, bewegt sie sich frei und selbstbestimmt. Doch auch hinter der Bühne weiß die Musikerin, die auch noch studiert und einen Mini-Job hat, auf ihre mentale Gesundheit zu achten. „Für Menschen wie mich, die unter Anxiety leiden, ist es wichtig, Regeln aufzustellen, zum Beispiel morgens auf Tour etwas Zeit für sich zu haben. Außerdem gilt für mich auf Tour Alkoholverbot – außer vielleicht am letzten Abend.“

Auch für Marie Feiler war es lange laut in der Branche: Nicht nur, wenn ihre glasklare Stimme durchs Mikrophon drang, sondern weil Menschen und Erfahrungen zunehmend lautstark an ihr vorbeirauschten und ihre Energie gleich mitnahmen. „Was mir am Anfang schwerfiel: Die Musik als Form von Arbeit anzuerkennen. Ich sah sie als mein Hobby, für das immer Energie übrig sein muss. Ich habe lange gebraucht, um mir einzugestehen, dass sie auch welche fordert“, berichtet die Sängerin.

Manchmal ist das Problem auch gleichzeitig die Lösung, wenn man nur an ein paar Schrauben dreht, hat Markus Blanke gelernt. Für ihn sei das Rocken am Brocken Festival „Familie und Schutz“, die nach Phasen der Überarbeitung heilsam für die mentale Gesundheit sei. Sein Weg, künftig auch Zeit für ebenjene Menschen zu haben, die sein Team ausmachen: „Ich möchte nicht weniger Festivals machen … aber ich muss die Arbeit auf mehr Schultern verteilen und nicht mehr jede Entscheidung alleine fällen.“

It’s on us: Was Festivalveranstaltende tun können

Strukturelle Probleme benötigen jedoch auch strukturelle Lösungen – und hier kommt Festivalveranstaltenden eine besondere Verantwortung zu. Ein Thema, das in allen Interviews einen großen Raum einnimmt, ist Struktur. „Planbarkeit ist super wichtig, das ist das stabilisierende Element“, betont Vivian Hoyer. Rechtzeitige, ausführliche Informationen zum Set-up und Personal vor Ort sowie konkrete Ansprechpartner*innen können viel Unsicherheit – die oft in Unwohlsein oder Panik münden – entgegenwirken. Außerdem? „Ein Awareness-Team muss immer sein. Und ich freue mich, wenn genau geschaut wird, wer hinter den Kulissen dabei ist, also nicht nur bei Künstler*innen, sondern auch im Team.

"Wird Diversität nicht nur als Aushängeschild genommen, eliminiert das schon einige Machtdynamiken."

antwortet die Sängerin auf die Frage, welche Faktoren ihr Sicherheit auf Tour geben.

Und dann wäre da noch die Aura, die unauslöschbar um die Branche wabert wie Nebel über dem Technofloor. „Ist das mit der Selbstausbeutung immer noch so?“, fragt Jacob Bilabel lachend und resümiert treffend: „Das Rollenbild der Branche ist das eines postheroischen Helden, der als letzter steht und im Sturm den Molton hängt.“ Und das ist Teil des Problems – um 22 Uhr ins Bett zu gehen bricht bis heute mit dem Modus Operandi der Festivalwelt. Es braucht also eine Entglorifizierung des Exzesses: Erst wenn genügend Schlaf genehm, Pausen gewünscht und ein Handy auf lautlos akzeptiert ist, können sich Strukturen der mentalen Gesundheit etablieren. Natürlich nicht am langersehnten Festivalwochenende – aber vielleicht an manchen der anderen 51 Wochenenden im Jahr. Es gilt, als Team die Grenzen aller zu akzeptieren und innerhalb der Branche das Gefühl zu vermitteln, auch unter Beachtung der eigenen Bedürfnisse Teil des großen Ganzen zu sein. Ein kleines, aber wirkungsvolles Beispiel aus dem Festivaluniversum: Als ein Mitglied der frisch zusammengestellten lunatic-Bande entschließt, das Team vorerst zu verlassen, weil die Belastung zu groß ist, ordert Saskia trotzdem ein Crew-Shirt für ihn mit; damit auch er sich weiterhin als Teil des Teams fühlt. So wird ein Shirt zum weichen Türöffner zurück in die Gemeinschaft, wenn die mentale Gesundheit es zulässt.

Raum für die großen Fragen

Am Ende geht es auch darum, Räume zu schaffen – und damit ist im Festivalkontext nicht nur gemeint, eine weitere Stage hochzuziehen. Festivals sind Orte, an denen Kreative vor, hinter und auf der Bühne zusammenkommen. Sie sind prädestiniert für den Austausch – ob in Workshops, bei Panels oder einem Drink an der Bar. Und für diesen Raum hat Jacob Bilabel einen Wunsch: „Ich bemerke momentan eine starke Victim Mentality. Überall kommen nun Leute raus und erzählen von ihren Zusammenbruchsgeschichten. Das ist auch gut – für Einzelne und für die Gruppe. Aber keiner traut sich, die strukturelle Frage zu stellen. Wenn wir jetzt auf das Symptom schauen, nämlich den oder die Zusammengebrochene, und mit viel Mitgefühl sagen: ,Es ist okay, dass du schwach bist‘ und dabei die strukturellen Grundlagen ignorieren, machen wir es eigentlich nur noch schlimmer.“

Ich bedanke mich für das Gespräch. Und dann gehe ich in den Flugmodus.