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48 Stunden Wilhelmsburg 2019


Vom Ghettoviertel zum Kultur-Hotspot

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Leonie Ruhland

Ronja Raabe, Henrike Schröder

Leonie Ruhland

7 Minuten

Mit vielen Tönen und Farben zeigt das Hamburger Viertel Wilhelmsburg seine nachbarschaftliche Freundlichkeit. Das multikulturelle Flair, die Solidarität unter den Besuchenden und Locations von Industriecharme bis Park-Romantik, machen das Festival so besonders.

Grüne Pfeile führen durch ein Gelände umsäumt von bunten Containern, die mit ihrem Industrie-Charme die Abendsonne leicht abschirmen. Schon aus der Ferne können wir die ersten Klänge eines Intros hören. Eigentlich sind es eher Geräusche, aber sie passen gut zu ihrem Spielort. Die Band, von der sie kommen, steht in einem quer liegenden Container in einer Ecke des Hofs. Wir befinden uns bei den Braun Containern in der Georg-Wilhelm-Straße. Ein paar Menschen stehen mit Bier oder Limo in der Hand davor und schunkeln. rohbau nennt sich die vierköpfige Band, als hätten sie sich diesem Ort angepasst, und vermutlich ist ihr rotziger Punk genau die richtige Musik für die Eröffnung dieser Bühne.

Etwas weiter in Richtung Norden muss sich eine andere Gruppe mit den Sonnenstrahlen begnügen, die durchs Fenster scheinen. Dafür liegt die Hafenkantine, ein kleines braunes Haus, an einem plätschernden Fluss, von dem sich eine idyllische Atmosphäre ausbreitet. Auch hier hat sich ein kleines Publikum versammelt, das zu den rockigen Tönen der Band Potrock hüpft. Diese Band und rohbau haben vor allem eins gemeinsam: den engen Bezug zu Wilhelmsburg, genauso, wie die vielen anderen Musiker*innen, die dieses Wochenende im Süden Hamburgs spielen.

Hier, auf der sogenannten Elbinsel von Hamburg, findet seit nun zehn Jahren das 48h Festival statt. Drei Tage kann man überall im Stadtteil verteilt lokale Musik ganz unterschiedlicher Genres hören.

Das Besondere an dem Festival ist, dass keine Bühnen extra dafür aufgestellt werden, nirgendwo entsteht ein „neuer Ort“.

Stattdessen werden vorhandene Läden genutzt: Gaststätten, Cafés, ein Frisör, ein Schrebergarten, sogar eine Bankfiliale oder eben die Containerecke aus der Nachbarschaft. Organisiert wird das Ganze vom Netzwerk Musik von den Elbinseln aus dem Bürgerhaus Wilhelmsburg heraus, dort, wo die Idee vor zehn Jahren auch geboren wurde. Angelehnt an 48 Stunden Neukölln, ein Kunst-Festival, bei dem ein Wochenende lang alltägliche Orte des Stadtteils durch internationale Kunstprojekte umgedeutet werden, wollte man musikalische Akteur*innen des Viertels vernetzen und sichtbar machen. „Bei 48h steht für ein Wochenende die Nachbarschaft der Elbinseln im Mittelpunkt und zeigt, wie sie einen Stadtteil zum Klingen bringen lassen kann“, sagt Sarah Höfling vom Kommunikationsteam.


Nicht nur mit Musik wird das Viertel in neue Gewänder gelegt. Im Bürgerhaus, dort, wo am Freitag, den 14.07.2019 das Event offiziell eröffnet wurde, beginnt gleich die Poetry Night goes 48h – Poesie in Musik und Text. Das Licht ist gedämpft und an Wäscheleinen an der Decke sowie im Eingangsbereich und an den Wänden hängen, teilweise kopfüber, diverse Portraits verschiedenster Menschen: Opfer der NSU-Morde, Deportierte, aber auch von Schülerinnen und Schülern des Helmut Schmidt Gymnasiums, die diese Veranstaltung maßgeblich mitgestalten. Dazwischen: Plakate mit Slogans von (rechten) Demonstrationen. Die Kombination verwirrt. Doch nachdem das Licht wird weiter gedimmt wird und ein Mädchen mit Hijab ein melancholisches Lied am Klavier anstimmt, erfährt das Publikum das Thema des Abends: „Was geht mich deine Geschichte an?“ 

Es geht darum, Kontexte zu schaffen, Sensibilität einzufordern, für die Geschichte anderer Menschen.

Darum, was wir aus den Geschichten lernen können und das uns die Geschichte der anderen vielleicht doch etwas angehen sollte. Abwechselnd folgen ein Poetry- und ein Musikbeitrag.
Ein alevitisches Mädchen erzählt von der Unterdrückung der Aleviten in der Türkei, die Pogrome von Çorum und Kahramanmaraş sowie dem Brandanschlag von Sivas und den Vorurteilen und der Verachtung, die ihr auch in Deutschland in Wilhelmsburg noch begegnen. Sie muss weinen, hält sich aber weiter an ihren Text. Im Publikum ist es ganz still, sie bringt die Leute zum Nachdenken, einige haben Tränen in den Augen. Das Mädchen auf der Bühne fängt sich wieder und spielt auf einer Laute, einer Bağlama, ein alevitisches Volkslied. Für die Aleviten hat die Musik schon historisch eine besondere Bedeutung. Sie ist Bestandteil ihrer Religion, verbindet und stärkt sie und gibt ihre Geschichte an jüngere Generationen weiter.

Das Netzwerk Musik von den Elbinseln besteht aus Profis und Hobbymusiker*innen, Schulen und außerschulischen Institutionen, Veranstaltungsorten, musikwirtschaftlichen Anbieter*innen und vielen anderen Musikinteressierten aus Wilhelmsburg und von der Veddel. Elbinsel heißt es übrigens, weil die beiden Stadtteile von Wasser umgeben sind und man sowohl nach Süden als auch nach Norden über das Wasser muss. Das Netzwerk wurde 2008 von der Stiftung Bürgerhaus Wilhelmsburg mit der Intention gegründet, Musik als Methode für die Stadtentwicklung zu nutzen. Das 48h ist eine Art Aushängeschild geworden, 148 Konzerte an 55 Orten zählt es inzwischen  und die lokalen Geschäfte profitieren enorm: Nicht nur am Wochenende selber steigt der Gewinn, auch die verschiedenen Locations werden bekannter.

„Es ist schon eine Aufwertung für die Umgebung“, findet Ercan, Besitzer vom Café Madeira. 2018 spielte eine bulgarische Band in dem kleinen Café mit portugiesischen Spezialitäten nahe des Wilhelmsburger Bahnhofs. Dieses Jahr können sich die Gäste mit Hip Hop und Reggae vergnügen. „Gerade diese Straße ist so ein bisschen in Vergessenheit geraten. Es ist gut, dass die Leute auch andere Seiten von Wilhelmsburg kennenlernen.“ Mit dieser Meinung ist Ercan nicht alleine. Auch die Leiterin der Bücherhalle ist begeistert:

Wir empfinden das immer als ganz, ganz großen Gewinn.

sagt Sabine von Altzen. „Die Leute lernen dann auch die Bücherhalle kennen. Es ist großartig!“ Das ist eigentlich ziemlich untypisch für eine Bücherei. Von Altzen lacht und erzählt, wie Leute gefragt haben, ob sie mit Bier eintreten dürfen. Beim 48h ist eben alles ein bisschen anders. „Dann sind Bibliotheken nicht Orte der Stille und Ruhe, sondern dann sind wir voll mit dabei und für uns ist es super, weil wir dann wirklich Teil des Viertels sind und dieses Viertel ist so lebendig und super und toll und großartig“, schwärmt von Altzen. 

Super finden das auch die Gäste. „Wer rechnet schon damit, dass eine Folkrockband in einer Bücherei spielt?“, sagt York, 26 Jahre alt, der heute zum ersten Mal auf dem Stadtteilfest ist. Ebenso wie Franziska, die in dem Fest auch eine Art offene Tür für Wilhelmsburg sieht: „Ich denke ja sonst nie: geil, lass mal dort hinfahren. Einfach mal sehen, dass Wilhelmsburg doch gar nicht so Ghetto-mäßig ist, wie man erwartet.“ Für viele Hamburger*innen werden die Elbinseln unter anderem aufgrund des hohen Ausländeranteils als Ghetto abgestempelt. Während des Fests erlebt man hier allerdings viel Toleranz und echte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Akteur*innen. Nicht nur im Publikum sitzen zum Beispiel viele Muslime*a. Generell ist das Publikum bunt gemischt, von der Nationalität, aber auch vom Alter und der Community-Zugehörigkeit her. Austausch entsteht und “dadurch ein wahnsinniges Gemeinschaftsgefühl”, findet York. 


Mittlerweile ist am Reiherstiegknie die Party in vollem Gange. In einem Zelt wird sich zu Elektro-Beats bewegt, das Publikum entspricht dem einer typischen Studierendenparty. Einige sitzen auf der Wiese, trinken und unterhalten sich. Während wir weitergehen, steigt uns der köstliche Geruch von frischer veganer Pizza in die Nase. Die Schlange ist total lang, denn für nur fünf Euro bekommt man eine Pizza und die Nachfrage ist groß. „Klar, ist die vegan“, wissen die Reggae-Fans. Auf dem Plateau ist das Hibration Soundsystem mittlerweile voll am Start, mit Blick aufs Wasser wird hier ausgelassen getanzt. Manche kommen einfach nur zu dieser Veranstaltung, ohne sich den Rest vom 48h anzugucken. Ein leichter Weed-Geruch legt sich über das Plateau, wo zu sommerlichen Tunes noch bis in den Morgen getanzt wird.

Es gibt aber auch Kritik an dem Event. Einige Anwohnende stört der Lärm, der bis Mitten in die Nacht durch die Straßen klingt. Zwar ist offiziell um 22 Uhr Schluss, aber natürlich machen einzelne Kneipen länger und die Leute streunen manchmal noch bis Tagesanbruch durchs Viertel. „Da waren dann die einen, denen im Reiherstiegviertel ohnehin schon zu viel gefeiert wird und die anderen, die nicht verstehen, warum man jetzt, da es so richtig schön abgeht, auf die Bremse treten soll”, sagt Sarah Höfling. „Damit ist 48h mittendrin in der Gentrifizierungsdebatte.” Über 20.000 Besuchende kamen im Jahr 2018. Im selbigen stand vor allem das Reiherstiegviertel in Kritik. Zum ersten Mal gab es etliche Beschwerde-Anrufe bei der Polizei und bei einer Prügelei zwischen Feiernden und Mitgliedern eines Motorradclubs wurden mehrere Personen verletzt. Als Konsequenz wird das Viertel im Norden Wilhelmsburgs 2019 nur noch am Freitagabend bespielt und der Fokus liegt wieder mehr auf jenen Quartieren der Elbinseln, die eher ein wenig im Abseits liegen.


Deshalb findet am Samstag viel im südlich gelegenen Bahnhofsviertel statt. Gegen Mittag spielt eine Gruppe türkische Volksmusik in der Kinderbetreuung Froschteich. Die Mitarbeitenden haben Kuchen gebacken, die mit quietschigen Farben glasiert sind. Nur wenige Menschen sind hier, der Froschteich ist etwas abgelegener und nicht sofort zu finden. „Das ist eigentlich traurig, weil das Fest ja eine tolle Sache ist”, sagt Sevinc, eine der Betreuerinnen des Ladens. „Aber es wissen auch gar nicht so viele. Ich wohne schon mein Leben lang hier und hatte keine Ahnung.” Erst letztes Jahr wurde sie auf das Event aufmerksam, als plötzlich eine Band vor ihrer Tür spielte. 

Während es zuvor sehr grau war, bringen nun erste Sonnenstrahlen immer mehr Menschen zu den verschiedenen Stationen.

In der Nähe der S-Bahn-Station Wilhelmsburg, neben einem Musikflohmarkt, setzt eine Gruppe von Integrativkindern ihre Blasinstrumente an. Später musiziert hier eine ältere Frau mit einem Theremin, ein elektronisches Musikinstrument, das berührungslos Töne erzeugt. Im Community Center Kirchdorf spielt nachmittags die Band Toxikonetik unplugged Rock und noch weiter südlich, im Minitopia, der “Plattform für urbane Selbstversorgung”, läuft Techno, während Jugendliche Graffiti malen oder mit Ton, Holz und Draht basteln, denn auch das Rahmenprogramm hat einiges zu bieten. Abgerundet durch die vielfältigen Lokalitäten, wird beim 48h Diversität so in jeglicher Hinsicht gelebt. 


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Leonie Ruhland

Ich bin Leo. Seit ich 2012 als erstes auf der Fusion war, tanze ich vor allem auf kleineren Goa- oder Technoevents herum. Dabei hüpfe ich von Floor zu Floor und verliere regelmäßig meine Gesellschaft – um sie Stunden später wiederzufinden. Ich bin richtig stolz darauf, mein komplettes Festival-/Campinggear in einen Backpack gepackt zu kriegen, Milchbrötchen und Einwegcam dürfen dabei nie fehlen. Wenn nicht auf der Tanzfläche, findet mensch mich meist mit meinem Notizheft inmitten anderer trubeliger Orte. Neben Höme schreib ich manchmal für die taz oder andere nette Redaktionen. Aber nur Höme vereint   meine beiden Leidenschaften perfekt

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Ronja Rabe

Hi, ich bin Ronja. Seit 2007 auf kleinen und seit 2008 auf großen Festivals unterwegs. Ob Rock oder Reggae, zum Arbeiten oder zum Spaß, die Festivalsaison ist einfach die schönste des Jahres! Schon seit der Schulzeit bin ich journalistisch aktiv, war zuletzt freie Redakteurin beim Musiker Magazin und freue mich nun bei Höme gelandet zu sein.

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