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Eurosonic Noorderslag 2021

Utopie statt Dystopie


Letzte Woche kamen, wie in jedem Jahr, Musikschaffende und -machende auf dem Showcase Festival Eurosonic Noorderslag zusammen. Wie in jedem Jahr warteten unzählige Panels & Talks zu den aktuellsten Themen der Branche und ein Potpourri der vielversprechensten Newcomer*innen darauf, gehört und gesehen zu werden. Nur diesmal eben ein wenig anders.

text Isabel Roudsarabi
redaktion Kristina Guhlemann
fotos Ben Houdijk, Bart Heemskerk

lesezeit 6 Minuten

Statt Eierbal aus dem Automaten am Grote Markt gabs in diesem Jahr das selbstgekochte oder selbstbestellte Gericht der Wahl im eigenen Wohnzimmer. Und statt ewigem hin und her hetzen zwischen Venues und De Oosterpoort, eben den gemütlichen Klick vom einen zum anderen Streaming-Kanal. Trotzdem hat es das ESNS irgendwie geschafft die Festival- und Networkingstimmung digital aufrecht zu erhalten und auch in diesem so krisengeprägten Jahr den ein oder anderen Hoffnungsschimmer zu bieten.

Zunächst einmal die Fakten.

Konferenz- und Festivalplattform haben in den vier Tagen fast 4.000 Musikliebhaber*innen und -schaffende aus 124 verschiedenen Ländern angezogen. Auf der Festivalseite, die zusammen mit dem öffentlich-rechtlichen Radiosender NPO 3FM entwickelt wurde, konnte man auf 4 Channels 189 verschiedene Acts bewundern, keinen davon allerdings live. Die Sets wurden kurz vor dem Festival, mit Unterstützung der European Broadcasting Union, den Exportbüros und einigen Festivals, in Venues in ganz Europa aufgenommen. Viele der niederländischen Künstler*innen und Bands konnten das vor Ort in Groningen tun, natürlich alles unter strengen Sicherheits- und Hygienemaßnahmen. 

Auch die Konferenz war nicht weniger aufwendig, als in einem Covid-freien Jahr.

66 Panels mit 274 Speaker*innen wurden auf die Beine gestellt und die Delegierten trafen sich untereinander zu mehr als 10.000 one on one Meetings auf der Digitalplattform.

Auch zwischen den Panels wurde es nicht still: Eine besondere Neuerung war der ESNS-Newsroom, der über den gesamten Zeitraum Interviews, kurze Livesessions und Infos zu Festival und Konferenz streamte. Einige wünschten ihn sich auch für die kommenden Eurosonic Ausgaben, dann live im De Oosterpoort.

Insgesamt wurde die Plattform von Besuchenden sehr gut angenommen. In der Chatfunktion häuften sich die Komplimente für Veranstaltende und Panelist*innen und die Möglichkeit, während der Talks Fragen an die Speaker*innen zu stellen wurde bei nahezu jedem Format rege benutzt. Das Panel “Successful Covid Festival Formats” war mit über 600 Zuschauenden genau so beliebt, wie etwa “Streaming is here to stay!” oder die Keynote Interviews mit Wendy Ong (Managerin Dua Lipa), Scott Cohen (Warner Music) und Neil Warnock (UTA).

Robert Meijerink, Head of Programme des ESNS schaut auf eine erfolgreiche Ausgabe zurück: “We are truly overwhelmed by the positive feedback, with many saying a new standard has been set, which is amazing and the digital edition has exceeded our wildest expectations. […]Thanks to NPO 3FM and members of EBU, ESNS was able to reach an even bigger audience in Europe and beyond. We really hope we can organise a physical edition in 2022 and be together once again, but we will also expand our online ventures next year.”


Glänzende Newcomer*innen

Mindestens sieben verschiedene Preise werden Jahr für Jahr auf dem ESNS verliehen. Diesmal waren es zwar etwas weniger, der Music Moves Europe Talent Award der EU-Kommission sollte aber nichts desto trotz verliehen werden. Gewonnen haben in diesem Jahr Alyona Alyona (ua), Inhaler (ie), Julia Bardo (it), Lous and the Yakuza (be), Melenas (es), Rimon (nl), Sassy 009 (no) und Vildá (fi). Sie alle gehen mit einem Preisgeld von 10.000€ nach Hause, der die internationalen Karrieren der Künstler*innen und Bands vorantreiben soll und ins Touring und die Promotion der Acts gesteckt werden kann. Alyona Alyona erhält als Gewinnerin des Public Choice Awards außerdem weitere 5.000€ und eine gefilmte Livesession mit Deezer in Paris. 

Auch einen neuen Award haben die Veranstaltenden mal eben aus dem Hut gezaubert. ESNS Kickstart entstand in Koopertaion mit Buma Cultuur und dem Niederländischen Musik Export. Auch hier werden Acts mit Potential ausgezeichnet, die ihre beginnenden Karrieren damit finanzieren können. 5.000€ gingen je an Froukje, Joya Mooi and Yssi SB.

Torten und Chancen

Was das ESNS auszeichnet, ist, dass es der Start eines neuen Musikjahres markiert und Impulse und Gedanken für die kommende Saison mitgeben kann. Und nicht nur die elaborierte und einwandfrei funktionierende eigene Plattform des Festivals hat dies vorbildlich getan, auch die Gespräche der Panelist*innen waren so aufschlussreich wie immer. 

Im Panel “Successful Covid Festival Formats” erzählten Pohoda-Chef Michal Kaščák, Raphael Meyersieck vom Electrisize Festival, Deer Shed Festival’s Kate Webster und Helena Sildna von der Talinn Music Week von ihren bereits erfolgreich durchgeführten Alternativkonzepten aus 2020. 
Das Deer Shed aus der UK, bei dem etwa die Hälfte der Besuchenden in jedem Jahr Kinder sind, lies ihre Acts über eine FM Welle laufen. So konnten nicht nur die vor Ort campenden Familien lauschen, sondern auch die Anwohner*innen in North Yorkshire. Beim Electrisize gab es im letzten Jahr Torte - und zwar markiert mit Bauzäunen, die sechs Bereiche mit jeweils 100 Besuchenden voneinander abtrennten und mit der 360 Grad Bühne in der Mitte von oben aussahen, wie das Konditorei-Gebäck. Das Pohoda bastelte an einem ein Livestreaming Event, mit über einer halben Millionen Klicks und die Talinn Music Week konnte unter Hygienemaßnahmen und mit heruntergeschraubter Kapazität sogar mit einem hybriden Modell stattfinden.

Was die vier Veranstaltenden aus letztem Jahr gelernt haben?

“Corona wird nicht die letzte Katastrophe gewesen sein […] Wir müssen lernen mit einer neuen Realität zurecht zu kommen”

so Helena Sildna: “Auch nach der aktuellen Krise werden wir Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen beibehalten und anpassen müssen.“ Außerdem habe sie gesehen, wie wichtig Kultur für die mentale Gesundheit der Bevölkerung sei: “Die Rolle, die unser Sektor auch im Sozialen spielt, sollte nicht vernachlässigt werden. Uns muss unsere Bedeutung dahingehend bewusster werden.”

Natürlich waren sich alle Panelist*innen einig, dass ein reguläres Festival so nicht ersetzt werden könne, sahen aber auch die Chancen in der Krise. Ein regerer Dialog mit der Politik hätte stattgefunden, genauso wie ein internationaler Community-Aufbau und Solidaritätsbekundungen, auch ohne Großveranstaltung.

Utopie statt Dystopie

Auch wenn das schwerste Jahr überhaupt hinter der Musikindustrie liegt, auf der Konferenz konzentrierte man sich vor allem auf die Zukunft, die wegweisenden Konzepte und Ideen, die die nächsten Jahre der Branche prägen werden.

So wurden auf dem Panel "Festivals and Concerts - Whats new in AR & VR?" etwa die neusten Entwicklungen im Streaming-Bereich vorgestellt. Ein Club, der virtuell zu besuchen ist, eine Software, die individuelle Augmented und Virtual Reality Experiences an die Bedarfe der Veranstalter*innen anpasst und 3D Shopping-Erlebnisse, die in jeder App eingebunden werden können. Auch beim Thema Nachhaltigkeit betonte MdEP Dr. Christian Ehler, wie wichtig es sei, einen utopischen, statt einen  dystopischen Ausblick in den Köpfen der Menschen zu zeichnen. "Nachhaltigkeit wird in Zukunft keine Option mehr sein. Sondern ein Muss", erklärt Dr. Ehler: "Entweder man passt sich an, oder es wird diese [nicht nachhaltigen] Arten von Festivals nicht mehr geben." Zwar müssten die Veranstaltenden wie die Besuchenden auf höhere Kosten einstellen, einen Weg vorbei an der Nachhaltigkeit zu finden, sei aber einfach nicht mehr möglich. Genau deshalb wäre es so wichtig, die Thematik nicht negativ konnotiert zu betrachten, sondern Einschränkungen in Bereichen wie Mobilität oder Infrastruktur als etwas zu sehen, aus dem eine positive Wirkung entsteht.


"Kultur spielt eine Rolle bei der und für die Erholung Europas."

Susanne Hollmann, Mitglied der Europäischen Kommission fasst in dem Panel "Music Moves Europe - EU Support to Music" die allgemeine Stimmung der Konferenz zusammen. Niemand möchte der Musikbranche ihre Misslage kleinreden, trotzdem fiel immer wieder der Begriff "Verantwortung". Verantwortung für die Industrie, die Umwelt, die Chancengleichheit und die Diversität, die Besucher*innen und deren Kontexte. Und eben eine wichtige Rolle darin, eine Welt so wieder aufzubauen, dass sie gestärkt aus der Krise geht. Erreicht werden könne da nur durch eine, auch über Landesgrenzen hinaus, solidarische Branche und einen regelmäßigen Austausch mit der Politik auf allen Ebenen. Dazu hat das Eurosonic Noorderslag in diesem Jahr allemal seinen Teil beigetragen.

Die Konferenzplattform wird noch bis Ende des Monats on demand verfügbar sein. Wer sich also nochmal das ein oder andere Panel anschauen möchte, kann dies bis zum 31.01. tun. Die Showcase Sets gibt es sogar noch bis Ende des Jahres zu sehen.

Festivalfinder

Eurosonic Noorderslag 2021

19.-22.. Januar – Groningen, NL


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