Rund 1.500 Kilometer westlich von Portugal liegen die Azoren. Neun Vulkaninseln, die mit mildem Klima und viel grüner Natur längst auf jeder World-Travel-Liste stehen. Grandiose Bergseen gehen in sanfte Weidelandschaften über, auf denen tausende schwarzweiße Kühe stoisch weiden. Nicht gerade eine Gegend, die man mit Popkultur in Verbindung bringt. Und doch ist vor acht Jahren ein unerschrockenes Trio angetreten, eine Region im großen Nichts mit Musik aufzumischen.
text Ralf Niemczyk
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Your Dance Insane, Vera Marmelo, Carlos Brum Melo,
Ines Subtil
lesezeit 6 Minuten
Wir sitzen im La Bamba Recordshop, dem „westlichsten Plattenladen Europas“, in der Altstadt von Ponta Delgada. Der Hauptort auf der größten Azoren-Insel São Miguel, auf der auch der internationale Flughafen liegt. Vinylfan und Betreiber Luis Banrezes, hatte dort aus einer gewissen Not heraus eine zündende Idee. Die Geburtsstunde des TREMOR-Festivals. Von Beginn an dabei: Joachim Durães und Marcio Laranjeira vom Independent-Label Lovers & Lollipops aus Porto.
Luis Banrezes: Ich bin der einzige von uns, der ständig auf den Azoren lebt. Von daher darf ich sagen, dass Ponta Delgada oft genug eine komplette Geisterstadt war. Hier wurde gearbeitet - doch es gab kein Leben und schon gar keine Kultur. Wir wollten das unbedingt ändern. Ich bin also nach Porto geflogen, ins Büro von Lovers & Lollipops marschiert und habe gesagt: „Ich habe 5.000 Euro Unterstützung von der regionalen Behörden bekommen, und will mit eurer Hilfe ein Festival starten.“ Ihre Antwort lautete nur „Ja.“
Joachim Durães: Im ersten Jahr hatten wir nur Bands von unserem Label hier, die ohne Gage spielten.
"Wir wollten beweisen, dass wir auch für sehr wenig Geld und ein supergünstiges Ticket eine Party in eine sonst tote Stadt bringen können."
Und es hat funktioniert. Das Festival fand draußen und drinnen statt, und wir haben viele Spielorte wiederbelebt, die fast vergessen schienen.
Luis Banrezes: Ab 2015 etablierte sich dann der Name TREMOR und gleichzeitig wurden die Azoren in den Linienplan der Low-Cost-Airlines aufgenommen. Hallo Ryanair und Co! Damit veränderten sich die Verhältnisse grundlegend. Man darf nicht vergessen, dass wir hier mitten im Atlantik sitzen. Plötzlich herrschte Aufbruchstimmung: Bars und Geschäfte öffneten. Ponta Delgada erweckte zum Leben. Wir wollten aber ein nachhaltiges Konzept, ohne den üblichen Tourismus mit riesigen Kreuzfahrtschiffen und Reisegruppen.
Heute sitzt man in der warmen Vulkanquelle des Terra Nostra Parks lauscht dem Avantgarde-Programm von TREMOR. Unter Musikfans auf dem portugiesischen Festland gilt das stets in der ersten Aprilwoche stattfindende Festival längst als obercooler Tipp für den Frühlingsbeginn, der hier mit milden 17 Grad aufwartet. Nicht zu kalt, nicht zu warm. Wetterlagen im raschen Wechsel. Ein Remix aus Irland und Hawaii, zwei Flugstunden entfernt von Porto oder Lissabon.
Luis Banrezes: Mit den großen Sommer-Events in Europa können wir nicht mal im Ansatz konkurrieren. Somit haben wir das TREMOR nach dem Eurosonic in Groningen als zweites Festival des Jahres programmiert. Das Wetter hier ist schon frühlingshaft und wir können auch einiges nach draußen verlegen. Da hier immer wieder auch heftiger Regen fällt, gehört Flexibilität auf jeden Fall dazu. Aber das ist kein Problem, der ist auch wieder schnell vorbei.
Marcio Laranceira:
"Unsere beste Band, die wir jedes Jahr im Programm haben, ist sowieso die Insel."
Außerdem laden wir die Künstler und Künstlerinnen ein, etwas länger bei uns zu bleiben. Mit Norwegen und Island hat es dieses Jahr sogar ein offizielles Austauschprogramm gegeben. Es entstanden spezielle Songs und Sounds, die sich mit den Wander-Trails und den Vulkanen auseinandersetzen. Es landen einfach coole Bands bei uns, die unser Prinzip hier verstehen und mal komplett aus dem üblichen Betrieb heraustreten wollen. Zudem wollen wir den Musiker*innen der Azoren eine Chance geben, sich vor einem größeren Publikum zu präsentieren.
Luis Banrezes: Nach der Covid-Pandemie, die uns auch hier in einen Dämmerschlaf versetzte, sind wir mit 2022 sehr zufrieden. Rund 1.000 Tickets, die 60 Euro kosten. Die Dimensionen lassen sich hier kaum wesentlich vergrößern. Wir wollen auch weiterhin kleinere, interessante Orte nutzen, wie etwa Restaurants, Markthallen oder den altehrwürdigen Club der örtlichen Handelskammer. Inzwischen ist es nicht schwierig, mit den Leuten von Ponta Delgada zu reden. Sie unterstützen uns, weil wir das Leben hier in Schwung bringen.
"The World comes through here"
Marcio Laranjeira: Unsere Besucher kommen zu etwa 40 Prozent von den Azoren selbst, 60 Prozent von außerhalb; von denen wiederum 70 Prozent vom portugiesischen Festland sind. Dazu Menschen aus Großbritannien, Holland und Frankreich. Neuerdings auch Deutsche. Die meisten kombinieren TREMOR mit ein paar Tagen Vulkan-Wandern.
Die 2022er-Ausgabe ist ein Restart nach der Pandemie-Welle. Die Eröffnung steigt im La-Bamba-Vinylshop -- der Orga-Zentrale, Ticketkasse und gleichzeitig dem Spielort für Barhocker-Konzerte ist. Die norwegische Folk-Jazz-Elektronikerin Hanne Hukkelberg eröffnet mit einem charmanten Workshop den diesjährigen Reigen.
Durch Förderungsprogramme (die Azoren bewerben sich für die Europäische Kulturhauptstadt 2027) sind auch internationale Gastspiele möglich. Luis Banrezes verweist auf Sonic-Youth-Mastermind Thurston Moore, der vor einigen Jahren mal einige Monate auf São Miguel verbrachte. Zum Schreiben und Komponieren. Die Azoren als Residenz für internationale Indie-Musiker und -Musikerinnen ist eine Vision für die Zukunft.
Schließlich steht auf den Info-Säulen im Hafen von Ponta Delgada „The World comes through here“, ein Spruch, der auf die längst vergangene Geschichte der Ozeandampfer und Propellerflugzeuge hinweist, die hier Zwischenstopps auf dem Weg nach Amerika einlegten. Mit TREMOR soll ein neues Kapitel in dieser langen Reise-Saga aufgeschlagen werden.
Soundexperimente in üppiger Natur
Zum offiziellen Line-up gehört auch 2022 der bewährte Genre-übergreifende Stilmix. Etwa Crossover-Jazzer Alabaster DePlume aus London, der marokkanische Grenzgänger Taqbir, die portugiesische Singer-Songwriterin Maria Reis, oder auch die Begegnung der in Lissabon lebenden Transgender-Künstlerin Odete mit Ece Canlı. Pop und Avantgarde zum Entdecken.
Im Festival-Alltag geht es beschaulich zu. Man sitzt im „Cafe Central“, schlürft einen Galao und macht sich auf zu einem dieser speziellen Trails im Rahmen des Schwester-Projektes Terra Incognita. Per Bus-Shuttle geht es etwa über kurvige Landstraße zum Wasserfall des Teufels. Eine Sound-Wanderung mit ausgeliehenen MP3-Player mitten durch die üppige Botanik rund um den Lagoa do Fogo. Zum Abschluss ein Konzert auf einer grünen Wiese. Das Mischpult wird per Sonnenkollektor bestromt. Andere Klangwanderungen führen in ein Höhlensystem aus erkalteter Lava oder - per E-Bike - zu legendären Kulturorten in der Region.
Bei einem abendlichen Ausflug in die 13 Kilometer entfernte Nachbarstadt Ribeira Grande findet das Konzert mit den Schweizer Psychedelikern L´Eclair auf dem überdachten Obst- und Gemüsemarkt statt. Kurzfristig verlegt vom zentralen Pavillion wegen eines heftigen Regengusses, der hier schnell einsetzen und dann auch wieder aufhören kann. Man sitzt also beim satten Gitarren-Groove zusammen mit der lokalen Nachbarschaft auf Plastikstühlen und versorgt sich in den umliegenden Marktkneipen mit Getränken. Wer sich die Nacht um die Ohren schlagen möchte, wechselt in den preisgekrönten Museumskomplex Arquipélagolud, der sich für das Tremor-Festival in einen Azoren-Berghain verwandelt.
Regionale Küche von der Heilig-Geist-Gemeinde
Zum Programm gehört auch, nach extra Anmeldung, ein rustikal-üppiges Abendessen im großen Pfarrsaal der Heilig-Geist-Gemeinde im Fischerort Rabo de Peixe, wo die örtliche „Community Kitchen“ ein Menü aus regionaltypischen Gerichten zubereitet. Eintopf und Fisch zum spaßigen Karaoke mit dem Dorf-DJ, der portugiesische Tanz-Klassiker zelebriert. Wer möchte, kann sich auch bei Familien einbuchen, und dort die lokalen Kochkünste testen, allerdings sollte man dafür das Portugiesische halbwegs beherrschen.
Die Konzerte werden zur Schnitzeljagd durch die Region.
Wenn die ehrwürdige Musikschule ihren Konzertsaal aus dunklem Holz für die Electro-Tracks der Amerika-stämmigen Berlinerin Lyra Pramuk öffnet, der ehemals noble Kaufmannsclub Ateneu Comercial eine subsonische Performance mit Unterwasservideos ermöglicht oder im leergeräumte azorischen Restaurant-Saloon Solar de Graza dunkle Doom-Klänge donnern. An der Bar stehen korrekte Kellner mit schwarzen Westen. Ein Bier der Regionalmarke Especial kostet einen Euro.
Die größte Venue ist der imposante, 1917 erbaute Kuppelbau Coliseu Micaelense mit seinen drei hohen Logenrängen. Der brasilianische Neo-Bossa-Nova-Star Rodrigo Amarante spielt hier zum Finalabend ein vielumjubeltes Set, bevor es den kurzen Fußweg rüber auf ein Gewerbegelände geht, wo in einer großen Reparaturhalle der örtlichen Verkehrsbetriebe mit den Nachtkonzerten der atlantische Ausklang beginnt.