Magazin

There is no place like Möhre:

Erinnerungen vom Wilde Möhre Festival 2017


 
 

text Joanna Jourdan
redaktion Tina Huynh-Le
fotos Paula G.Vidal

“Wilde Möhre, was ist das?”

 

Abgesehen von der wunderschönen Pflanze “Daucus Carota” ist die Wilde Möhre eine kleine Festivaloase in Drebkau. Seit nunmehr vier Jahren gibt es dort unter diesem Namen Musik, Workshops, Theater, Filme und Diskussionen im Herzen der Natur. Was ursprünglich nur eine Gruppe von Freunden mit Liebe zu Open Airs war, verwandelte sich über die Jahre in ein gemütliches Festival rund eine Stunde von Berlin entfernt.



Die Möhre ist “ein Ort, an dem die Liebe jeden Besucher vom richtigen Handeln überzeugt und der als Blaupause für ein gutes Miteinander verstanden werden kann”, versprechen die Veranstalter.

Was also macht dieses Festival so besonders? Es ist neu, klein, aufregend und – unter uns gesagt – ist die Planung manchmal noch etwas tollpatschig, aber das macht das Ganze zu einer noch authentischeren Erfahrung davon, wie “viele kleine Blüten, (…) gemeinsam ein Ganzes ergeben”.

Voller Erwartungen und Vorfreude schnappe ich mir meine zwei besten Freunde und es kann losgehen. Kommt ihr mit?

Donnerstag

Vollgepackt und überpünktlich beim S-Bahnhof Ostkreuz warten wir auf unseren Zug nach Altdöbern. Es läutet, die Türen gehen zu und wir machen uns auf den Weg. Der Zug wird immer voller und unsere Vorfreude immer größer. Eine kurze Shuttlefahrt und schon sind wir da.

Aufbau: Glamping ist dieses Jahr angesagt! Keine langen Schlangen beim Kaffeestand mehr. Nein! Wir haben unseren eigenen mitgebracht. Reis, Nudeln, Couscous und frisches Gemüse stehen auf unserem Speiseplan. Privater Wassertank, Kissen und Plane dürfen natürlich auch nicht fehlen und runden unser provisorisches Heim ab.

Zwei Stunden nach der Ankunft steht unser Zelt, es geht zum ersten Mal aufs Festivalgelände und wir entdecken gleich die erste Perle dieses Donnerstagabends: Nach einem Spaziergang durch den Märchenwald kommen wir zur “Immer Grün”-en Bühne und bewundern Kilnamana. “the best music for committing suicide in paradise”.

Hier und auch überall sonst auf dem Gelände wird schnell klar, wie viel Liebe zum Detail die vielen Möhrchenhelfer in jede Arbeit gesteckt haben.

Freitag

Kaffee ohne Kaffeefilter. Wir merken, dass das Glamping ohne Wohnmobil nicht so gut klappt. Aber auch ohne Kaffee und trotz Regen geht es motiviert und vollgefuttert in unseren Workshop-Tag.

Wir werfen kurz einen Blick auf die Installationen, welche wir gestern nur im Dunkeln gesehen haben, dann geht es zum Batik-Workshop beim Kunstzelt. Leider sind die Workshops sehr beliebt und der Regen treibt alle Menschen unter das kleine Zeltdach. Wir müssen aufgeben, ziehen weiter und entdecken einen Escape Room.

Das Escape Game der “Insel der verlorenen Träume im Wald” hört sich super an. Das Spiel ist sehr poetisch, durchdacht und mit unglaublich viel Liebe umgesetzt. Da stört der Regen auf einmal nicht weiter.


Nach anderthalb Stunden schaffen wir es ziemlich durchnässt endlich, die Truhe zu öffnen, um das traurige und melancholische Ende der Geschichte von Polina und Alexej zu erfahren. Nach einem letzten Blick auf die Gräber der verlorenen Träume – “Medizinstudium”, “Sixpack” und „Marsmission“ – verlassen wir die Insel und stehen wieder im Festivalleben.

Leider wird der Regen immer intensiver und es kommt die Sturmwarnung: Das Festivalgelände wird evakuiert. Alle zurück aufs Campinggelände.

Unsere Mission: Eine Konstruktion aus Plane, Baum, Zelt und Stock zu basteln, die uns vor dem Regen schützt. 20 Minuten später und nass bis auf die Knochen haben wir Erfolg: Glamping ist wieder ON!

Später, nach stundenlangem Philosophieren über die Welt, einem leckeren Abendessen und heiterem Vorglühen, spaltet sich unsere Gruppe. Während die meisten durch die Nacht tanzen, habe ich den Tag aufgrund des Regens abgeschrieben und begebe mich früh ins Bett.
“Realism is never getting anything done”.



Samstag

Aufstehen! Ausgeschlafen laufe ich allein auf das Gelände und setze mich auf einem verlassenen Schiff beim Kraut und Rüben Floor zu einer kleinen Runde dazu.
Dort sitzt Wilde Möhre Gründer Alex zum Beantworten unserer Fragen.
Er spricht über den aktuellen Stand des Festivals und gibt interessante Infos: 32 Festangestellte, 20 Kollektive, 150 freie Helfer, 6.000 verkaufte Tickets.

Jetzt sind wir dran. Was liegt uns auf dem Herzen?
“Warum ist die Musik so leise? “
Huch, diese unausgeschlafenen Möhrchen spaßen nicht. Mit großen Augenringen starren sie Alex an und warten auf Antworten. Ruhig erzählt er uns vom Gerichtsverfahren der letzten Wochen. Darüber, wie sich eine Einwohnerpartei gegen die Sondergenehmigung gestellt und damit das Leben der Wilden Möhre bedroht hat und darüber, wie sie bis zur letzten Minute gekämpft haben, um die Genehmigung vom Oberverfassungsgericht bis Donnerstagabend zu bekommen.
Der Kompromiss wurde schließlich bei der Lautstärke der Musik gemacht. Tagsüber lauter, nachts etwas leiser.

“Und die Klos?” Obwohl es dieses Jahr wesentlich mehr Ökotoiletten auf dem Gelände gibt, merken wir alle, dass es nicht ausreichend Personal zum Sauberhalten zu geben scheint. Die Ökotoiletten kommen samt Personal von einem externen Dienstleister, mit welchem auch die Veranstalter nicht sehr zufrieden zu sein scheinen.
Nach der konfrontativen Feedbackrunde kommen noch ein paar schöne Worte von denen, die sich nicht von diesen Umständen nerven lassen, dann trennen sich unsere Wege.

Ich hole die Mädels vom Zelt ab, es gibt leckeres Mittagessen und dann geht es zum Tango für Anfänger wieder zurück aufs Gelände.
Ganz schön sinnliche Übungen, um in Stimmung zu kommen. Selbst als Außenstehende habe ich das Gefühl, Teil eines sehr intimen Moments zu sein – auch ohne, dass wir die Workshops “Touch and Play” und “Bonding through Bondage” ausprobieren.

Im Anschluss tanzen wir zu schönen 90er Hiphop Beats mit Kai Kani bis unsere leeren Bäuchlein wieder nach Essen schreien. Dann kann in den Abend gestartet werden.

Besonders verzaubert haben uns Joy Wellboy, Punani, Otarie, Zenoção und zum krönenden Abschluss Das She Cray. „Zwei Pfeffis und ein Jägermeister bitte”.



Sonntag

Ausgeschlafen aufgewacht schaue ich kurz nach draußen. Die ersten packen schon ein, während alle mit einem Sonntagspass gerade ankommen, um die nächsten Stunden tanzend im Zauberwald zu genießen.

Aktzeichnen im Kunstzelt, Häkeln Deluxe in der Wilden Werkstatt, transformatives Yoga in der Lichtung, doch uns zieht es zur Musik. Zu Snacks noch ein letztes Mal die Beine bewegen, bevor es bald heimwärts geht.


Müde und erschöpft bauen wir ab und flink geht es zum Shuttle.
Die Abreise verläuft reibungslos. Schon nach anderthalb Stunden liege ich in meinem Bett und lasse die Bilder des Wochenendes in meinem Kopf Revue passieren.

“Wilde Möhre, wer bist du?”
Für mich bist du ein Ort der Freiheit, Entfaltung und – wie du es mir versprochen hast – ein Ort der “Blaupause für ein gutes Miteinander”. Vor allem aber bist du ein Ort, an dem ich mich nächstes Jahr sicherlich wieder aufhalten werde.

Und ihr? Kommt ihr mit?