Aus wirtschaftlicher Sicht ist die kollektive Zwangspause der Festivallandschaft natürlich eine Katastrophe. Trotzdem hört man immer wieder, dass viele aus der Branchen gerade zum ersten Mal seit Jahren einen Sommer lang zur Ruhe zu kommen. Und obwohl es eine Ruhe ist, die existenzbedrohend werden kann, bleibt die Erkenntnis: “Vielleicht tut mir das ja mal ganz gut.” Deshalb haben wir uns mit Festivalmacher*innen getroffen, die sich in ihrem Leben schon einmal bewusst für eine Auszeit entschieden haben.
text Jonas Rogge
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Till Petersen
lesezeit 6 Minuten
Annika Hachmeister und Léa Oltmanns kommen gerade aus einer Sitzung des dreiköpfigen lunatic-Vorstandes, als sie für unser Gespräch auf dem Sofa vor ihrer Webcam auftauchen. Die Situation des Lüneburger Festivals ist eine besondere: Die eigentliche Programmgestaltung und Durchführung des Festivals werden von einer jährlich wechselnden Gruppe Studierender im Rahmen eines Uni-Seminars getragen. Dem Projektjahr 2020 bricht also alles weg, worauf sie seit Beginn des letzten Wintersemesters hingearbeitet haben. Im nächsten Jahr werden viele aus der Gruppe gar nicht mehr an der Uni in Lüneburg studieren.
„Die haben das super verkraftet, weil das ein super Team ist“, erzählt Annika. Die Gruppe habe sich blitzschnell umorientiert und ihre Energie dort eingesetzt, wo sie sie noch konstruktiv für das lunatic einbringen können. Kurzerhand wurde ein Online-Shop eingerichtet, in dem nicht nur Merchandise verkauft wird, sondern auch Kunstpakete für Zuhause, deren Erlös den Künstler*innen zugute kommt, die sonst auf dem Festivalgelände ihre Arbeit hätten ausstellen können.
Der Vorstand, dem Léa und Annika angehören, und der sich um die Koordination der Projektgruppen und die Vereinsarbeit kümmert, sei von der Absage 2020 viel härter getroffen worden. Denn es ist das zweite Jahr in Folge, in dem das lunatic nicht stattfindet. Im Vorjahr hatten sie sich bewusst für eine Pause entschieden.
Dieser Schritt habe sie damals einige Überwindung gekostet, erinnert sich Annika. „Wir haben uns in einem Kreis von zehn Leuten für eine Woche in ein Haus zurückgezogen und darüber gesprochen, wie wir in Zukunft weiterarbeiten wollen. Das war krass emotional - am Anfang erschien die Vorstellung ein Jahr kein Festival zu veranstalten als Super-GAU. Am Ende war niemand aus dem Team mehr gegen die Pause.“
Strukturen, die kaputt machen, kaputtmachen
Beim Fuchsbau, das seit 2011 im Umland Hannovers stattfindet, war die Situation vor drei Jahren ähnlich. Das Festival wird von einem Kollektiv von 15-20 Leuten ehrenamtlich organisiert. Nach der 2017er Ausgabe häuften sich Stimmen aus dem Team, die sich ausgebrannt fühlten, oder die ankündigten, mal für einen Sommer nicht vor Ort zu sein. „Unsere Ideen und die Energie für Neues kommt immer aus den jeweiligen Umwelten aller Teammitglieder. Aber wenn keine Zeit mehr bleibt, seine eigene Umwelt wahrzunehmen, dann sollte man einen Gang zurückschalten.“, so hatte es Jannis Burkhardt, Produktionsleiter des Fuchsbau in einem früheren Interview mit Höme formuliert. Die folgerichtige gemeinsame Entscheidung war, dass sie 2018 kein Festival in gewohnter Weise veranstalten würden.
Beide Festivals, Fuchsbau wie lunatic, stehen mit etwa viertausend Besucher*innen an der Schwelle zwischen regionaler Nische und Massenveranstaltung. Und mit musikalischen Acts wachsender Größe, begleitet von einem Kunst- und Diskursprogramm, entsteht ein Aufwand, bei dem die Vorstellung vom Festival als netter Nebentätigkeit an ihre Grenzen stößt. Ist das jetzt noch ein Hobby oder schon ein Beruf? Fragen des Selbstverständnisses drängen sich auf, für die Reflektion bleibt meist wenig Zeit. Oft beginnen die Vorbereitungen fürs Folgejahr schon bevor das Festival im laufenden Jahr über die Bühne gegangen ist.
Karlheinz Geißler, selbsternannter Zeitberater und oft bemühter Interviewpartner zum Thema Zeit formuliert dieses Problem in einem Feature des Deutschlandfunk so: „Eine Pause ist sozusagen ein Teiler.
Sie teilt zwischen dem, was war, und dem, was kommt. [...] So können wir überhaupt nur zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden, in dem, was dazwischen ist, sonst geht alles immer weiter. Dieses Dazwischen ist ganz wichtig, um Orientierung zu finden."
Wenn dieses Dazwischen sich in den alljährlichen Produktionszirkel nicht einbinden lässt, dann muss vielleicht eine Pause her.
Diese hat sich das lunatic-Team 2019 genommen, mit dem Ziel alte Strukturen hinter sich zu lassen. Zu sehr auf Selbstausbeutung ausgelegt sei ihr Modell gewesen, resümiert Annika. Vor der letzten Ausgabe war eine zweiköpfige Leitung fünf Jahre lang alleine für die Gestaltung des Festivalseminars verantwortlich, ohne entsprechende Bezahlung. Eine der wichtigsten Reformen sei es deshalb gewesen, ein Netz aufzubauen, in der die Verantwortung für das Seminar auf mehr Schultern aufgeteilt wurde, erklärt Léa. Außerdem wurde ein Vorstand eingerichtet, dessen Besetzung nicht aus dem Projektteam des Seminars stammt und der dadurch jedes Jahr wechselt - der sich die Zeit für Vereinsarbeit nehmen kann und der Koordination des Projekts Kontinuität ermöglicht.
Das erste Resümé nach der Pause, vor Corona, war euphorisch: „Vorfreude und Motivation für 2020 waren riesig, der Vorverkauf lief mega“, berichtet Annika.
Raum für Reform schaffen
Das Fuchsbau-Team konnte im Pausenjahr die Füße nicht ganz still halten. Nach der Ankündigung 2018 auszusetzen, organisierte das Kollektiv im Frühjahr 2018 kurzfristig eine mehrtägige Konferenz. Es gab Diskussionrunden, Performance und Konzerte am Abend und teaminterne Workshops am Nachmittag – ohne Übernachtung. Das hatte den Vorteil, dass sich der Arbeitsaufwand von einem Drittel der Leute stemmen ließ, und manche sich für einige Monate ganz herausziehen konnten, erzählt der künstlerische Leiter des Fuchsbau Christoffer Horlitz vor der heimischen Bücherwand. Zugleich konnten sie Themen- und Problemfelder angehen, „für die wir vorher schlicht nicht ausreichend Zeit hatten: zum Beispiel die Frage, wie Campingareale so gestaltet werden können, dass sich dort alle sicher fühlen.“
Die Organisator*innen vom Fuchsbau wollten sich dem Marktdruck, dem ungeschriebenen Gesetz, dass ein Festival jedes Jahr, und am besten am gleichen Wochenende stattfinden muss, entziehen. Christoffer sieht darin durchaus ein gewisses Risiko: „Festivals leben natürlich davon, eine Regelmäßigkeit zu schaffen und Besucher*innen an sich zu binden. Der Markt ist ja mittlerweile so, dass man sich viele Monate vorher für ein Festival entscheiden und Tickets kaufen muss.“ Die anfängliche Angst, dass das mühevoll aufgebaute Konstrukt zusammenbrechen könnte, sei aber unberechtigt gewesen. Tatsächlich habe die Erfahrung der Pause, und vor allem die Erkenntnis, dass es danach weitergehen kann, die Zusammenarbeit im Kollektiv noch intensiver gemacht.
Weil infrastrukturelle Probleme mit dem Außengelände einem Sommer-Festival 2020 schon vor der Ausbruch der Pandemie im Wege standen, arbeitet das Fuchsbau-Team erneut an einer alternativen Veranstaltung im Winter, bei der es ähnlich wie 2018 ein diverses Programm geben soll. „Das Spannende beim Fuchsbau ist ja, dass die Besucher*innen sich in überraschenden Situationen wiederfinden“, meint Christoffer. Zwischen Ekstase und Diskurs, Reflektion und Genuss. Vielleicht würde man durch die neuen Formate ja nicht nur Leute verlieren, sondern auch neue gewinnen.
Wieder mehr schrullige Sachen machen
Die Festivallandschaft ist in den letzten zwei Jahrzehnten im stetigen Wachstum. Für viele Kulturschaffende und ihre Projekte ist die Corona-Krise existenzbedrohend. Die Frage, ob kreative Verwirklichung, künstlerischer Freiraum und Professionalisierung vereinbar sind, bekommt eine existentielle Dimension. Timo Kumpf, Veranstalter des Mannheimer Maifeld Derby, hat die Frage in den letzten Monaten bereits für sich beantwortet: „Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht, und ich habe keine Lust es wieder zum Hobby zu machen.“ Er ist, trotz abgeklärter Art, wild entschlossen das Maifeld Derby auf ein stabiles Fundament zu stellen und sich gerade dadurch den Spaß an der Sache zu bewahren. Die Zeit, die es für die Einsicht und die Umsetzung seines Entschlusses braucht, verdankt er einer einjährigen Auszeit.
Dass es allein für die Absicherung seiner freiwilligen Helfer*innen nötig sei, einen Verein zu gründen, darüber hätte er vorher nie nachgedacht, erzählt Timo bei einem Gespräch in einem kleinen Lokal an der lauten Neuköllner Hermannstraße. Neben ihm liegt ein Karton mit frisch gelieferten Platten. „In dem letzten Jahr, bevor ich mich für die Auszeit entschieden habe, habe ich weder eine Platte gehört, noch einen Film geguckt.“ Jetzt sei er sich wieder bewusst, warum er das überhaupt macht, ein Festival.
Außerdem habe er definiert, was er braucht, um mit dem Maifeld Derby weiterzumachen. Dazu gehört eine Förderung durch die Stadt, die es ermöglicht, sich und seinen Mitarbeiter*innen ein vernünftiges Gehalt auszuzahlen, nachdem er das Festival, das oft mit exklusiven Line-ups beeindruckt hat, neun Jahre mit der Ausrichtung kommerziell orientierter Konzerte querfinanziert hat. Dazu gehört aber auch, sich über die eigenen Prioritäten klar zu werden: „Ich will in Zukunft wieder mehr schrullige Sachen machen. Früher haben wir mit hunderten Leuten zusammen aufm Campingplatz Schnitzel gegessen, nebenher spielte eine Band.“ Dann ist das Festival kontinuierlich gewachsen, Timo wollte immer größere Acts buchen, mehr Leute nach Mannheim bringen und
„Irgendwann wurde die Nummer zu groß, um sie aufzuhalten.“
Im Februar letzten Jahres hat er aber genau das getan. Mit der Entscheidung, 2020 kein Festival zu veranstalten, könnte er seitdem nicht glücklicher sein. Nicht nur habe er es geschafft, sich wieder seinem Privatleben zu widmen, auch die Wertschätzung für sein Projekt sei zurückgekehrt, nach einigen Jahren, die „vorbeigerauscht sind“.
Ob er anderen Festivalmacher*innen auch mal so eine Auszeit empfehlen würde? „Machen ja alle dieses Jahr, brauche ich keinem empfehlen. Ich rede gerne theatralisch:
Ich glaube, es hat mir das Leben gerettet.
Und damit hat es vielleicht auch die Veranstaltung gerettet, oder den Grundstein gelegt, dafür, dass es weitergehen kann.“
Ob die Corona-bedingte Zwangspause bei allen Festivalmacher*innen so tiefe Einsichten hervorruft, wie es die gewählte Auszeit bei Timo getan hat, ob sie sich in diesem Jahr Zeit nehmen, um Festivals nächstes Jahr nachhaltiger und inklusiver zu gestalten, ob das Hurricane mal ein paar weibliche Headliner bucht – es bleibt abzuwarten.
Eines können wir aber sicher lernen, aus den Gesprächen mit denen, die schon einmal auf ihren Mittelpunkt des Sommers verzichtet haben: Die Entscheidung, eine Pause einzulegen, war immer eine Entscheidung für das Festival, nie dagegen.