Magazin

Keine Utopie


Das Sternchenschanze Open Air Hamburg


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Lara Gahlow

Isabel Roudsarabi

Marvin Contessi, Lara M. Gahlow

4 Minuten

Ein Line-up ohne cis Männer, ein innovatives Awareness-Konzept, wohlige Ekstase: Das *Schanze Open Air öffnet seine Tore für eine Version live-musikalischen Feierns, die auf den ersten Blick einer Utopie gleicht. Doch dahinter stecken harte Arbeit und eine klare Vision.

Kids mit Low-Waist-Jeans, die vor Veranstaltungsbeginn noch ihr mitgebrachtes Mittagessen aus Metallbüchsen verspeisen. Genug FLINTA*-Toiletten, in deren Vorräumen ein netter Plausch entsteht. Ekstatisches Fächerwedeln völlig Fremder zu den eigenen Moves vor der Bühne – ermutigend, ganz ohne Hintergedanken. Was nach einer fantastischen Utopie hiesiger Festivalkultur klingt, hat einen Namen. Und was für einen: *Schanze Open Air (gesprochen: Sternchenschanze Open Air). Aus Hamburgs Hipviertel Sternschanze wird Sternchenschanze, weil das Gendersternchen richtungsweisend für das Konzept des eintägigen Events ist. Headlinerin des Programms ist Blümchen, ein Popsternchen, das hier mit dem Rest des FLINTA*-Line-ups, bestehend aus Mavi Phoenix, Domiziana, Myss Keta und Co., ausnahmslos zelebriert wird. Man merkt: Hier steckt Konzept hinter – und ich will mehr wissen.
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Der Schlüssel sind die Schlüsselpositionen

Dass ich über dieses FLINTA*-Festival mit Hendrik Meier – einem cis Mann – spreche, fühlt sich zugegebenermaßen kurz merkwürdig an, ergibt aber nach den ersten Minuten schon Sinn, in denen er von der Entstehung des *Schanze Open Airs spricht. „Die Grundidee entstand aus einer möglichen Förderung der Initiative Musik. Ich wollte das Projekt gerne übernehmen, mir jetzt aber nicht als cis-männliche Person das Konzept überlegen.“ Also holt sich der Veranstalter Input von Johanna Bauhus, Veranstalterin, Labelbossin bei Ladies&Ladys und Expertin für Awareness-Konzepte. Sie betont: ohne FLINTA*-Überschuss im Team kein gleichberechtigter Umgang. Damit das geplante Open Air sich also FLINTA*-Festival nennen dürfe, muss nicht nur das Line-up all-FLINTA* sein, sondern auch die Schlüsselpositionen in der Organisation.
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Und die sind schnell besetzt: Navina Nicke, Security- und Event-Safety-Managerin und Expertin für K.o.-Tropfen sowie Referentin für antisexistische Arbeit wird Awareness-Leitung, die mit „Safe and Sound“ auch einer Firma zum Thema vorsteht. Julia Schmidt führt die Security. Vanessa Cutraro, Geschäftsführerin bei Buback Konzerte übernimmt das Booking. Die Gestaltung der Plakate, vor denen Hamburger*innen immer wieder verwundert stehenbleiben und sich „DIE Blümchen?!“ zuraunen, wandert über die Ländergrenzen hinweg zu Giulia Conoscenti, einer süditalienischen Illustratorin mit antifaschistischer Vision. Typografin Juliane Hohlbaum aus Karlsruhe entwickelt den Namen (man muss wohl außerhalb Hamburgs sitzen, um aus der Stern- eine Sternchenschanze zu machen). Und Hendrik, der Mann, wird die Assistenz von Bookerin Vanessa und übernimmt unter ihrer Führung allerhand organisatorische Tätigkeiten. „Damit da nicht am Ende wieder ein Typ steht und sagt, wo es langgeht.“

Ekstase auf dem Carportpflaster

Zurück aufs Gelände: Die Metallbrotdosen sind verstaut und werden an der rein weiblich gelesenen Tür kurz untersucht. Eine freundliche Begrüßung, ganz ohne Einschüchterung. Rauf aufs Veranstaltungsgelände direkt neben den Messehallen, die an diesem Freitagnachmittag strahlend weiß die Sonne reflektieren und nur vom Fernsehturm überragt werden. Flankiert ist die Fläche von stählernen Logistikcontainern. Der Boden aus Pflastersteinen westdeutscher Carports, die heute vor Hitze flimmern. Auch ein bisschen Branding gibt es zu sehen, unser Treffpunkt wird eine riesige aufblasbare Spirituosenflasche. Außerdem Rollrasen, Foodstände, Bierwagen. Alles in allem keine Augenweide. Umso fassungsloser bin ich von dem, was an diesem Ort entsteht: Ekstase. Zusammenhalt. Fast schon Geborgenheit. Mit Frauen, nicht-binären und trans Personen, mit queeren Menschen und Leuten, die mit Gendernormen brechen, gelingt es dem *Schanze
Safer Spaces zu erschaffen. Wie geht das?

Definition "Safer Space": In den letzten Jahren hat sich der Begriff „Safe Space“ im Awareness- und Veranstaltungskontext durchgesetzt. In diesem Artikel wird jedoch der Begriff der „Safer Spaces“ verwendet. Zum einen kann keine Veranstaltung ein komplett sicherer Ort sein, da nicht alle Gefahren für alle Gäste eliminiert werden können – denn das Verhalten von Menschen wird an der Tür nicht abgelegt. Daher zielt Awareness-Arbeit darauf ab, Orte sicherer (safer) zu machen, ohne Anspruch erheben zu können, sie sicher (safe) zu machen. Zum anderen wird der Plural „Spaces“ verwendet, weil ein Ort von einer Person als sicher wahrgenommen werden kann, während ein anderer Mensch sich darin nicht sicher fühlt – bedingt z. B. durch Formen struktureller Diskriminierung oder individueller Erfahrungen. Daher existieren immer multiple Spaces am selben Ort, die mit einem unterschiedlichen Sicherheitsniveau für Betroffene einhergehen.
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Auf Unwetter vorbereitet sein – auf K.o.-Tropfen aber auch

Schon im Vorfeld stellt sich Awareness-Leitung Navina – auch mittels Gebärdensprache – online vor, auf dem Gelände informieren Aushänge nicht nur die Besuchenden, sondern auch Künstler*innen und Mitarbeitende über ihre Möglichkeit, mit dem Awareness-Team zu sprechen. Ein Infopoint dient neben den Ansprechpersonen, die sich auf der Fläche bewegen, als Anlaufstelle. Ein zusätzlich angemieteter Raum wird zum Safer Space für all jene, die einen Rückzugsort benötigen. Was Besuchende nicht sehen: „Wir haben das Sicherheits- und das Awareness-Konzept ineinander verzahnt geschrieben und uns die Verantwortung geteilt – ich war zu 70 Prozent für das Awareness-Konzept und zu 30 Prozent für das Sicherheitskonzept zuständig, bei Julia war es andersherum“. So beschreibt Navina das Vorgehen, das auch für sie eine Premiere ist. Das ist erstaunlich, beziehe sich Notfallplanung doch nicht nur auf drohendes Unwetter, sondern beispielsweise auch auf den Einsatz von K.o.-Tropfen. Aber diese Co-Kreation ist eben nicht nur logisch, sondern auch teuer.
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So entstehen die beiden Konzepte im engen Austausch, während bei den meisten Festivals der eine Papierstapel den anderen nie berühren wird. Und Stapel ist hier nicht übertrieben: Das Awareness-Konzept umfasst am Ende mehr Seiten als Navinas Bachelorarbeit. Mit diesem Vorgehen verfolgt die Bildungsreferentin ein klares Ziel: „Ich möchte, dass sich Awareness-Arbeit weiter professionalisiert und wir in 20 Jahren das Awareness-Konzept gleichzeitig mit dem Sicherheitskonzept von den Behörden absichern lassen. Die sollen uns dann sagen, ob wir es geschafft haben, unsere Besucher*innen ausreichend vor Diskriminierung zu schützen.“

Does the act make the crowd?

20 Uhr, die Sonne steht schon tief. Während ich den glamourösen Tänzer*innen bei Myss Keta beim Voguen zuschaue, stelle ich fest, dass das Publikum der italienischen Rapperin stylewise in nichts nachsteht – obwohl natürlich niemand mit einer goldenen Mundbedeckung gekommen ist. Bei der Hamburger Hyperpop-Queen Mariybu singen die Gäst*innen aus überzeugten Kehlen mit. Domiziana liegen sie zu plateubesohlten Füßen, eine Bühne weiter bewegten sich vorhin noch Kinderbeinchen zu Sukini im Takt. Es wird klar: Dieses Line-up zieht ein Publikum an, das gemeinsam Safer Spaces kreiert – und gleichzeitig auch nur kommt, wenn es sie gibt. Denn während die Forderung nach mehr FLINTA*-Acts schon längst zum guten Ton der Musikbranche gehört, dem nur vereinzelte Veranstaltungen sich noch verwehren, gehen die wenigsten Live-Events noch einen Schritt weiter und verbannen cis Männer von der Bühne. Doch ist es genau diese Konsequenz, die den Unterschied macht?
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Als sich die Sonne hinter der Bühne endgültig verabschiedet, schaffen es übrigens doch noch cis Männer auf die Bühne – als Backgroundtänzer für Jasmin Wagner, die in formvollendeter 2000er-Manier mit Cheerleader-Performance die Bühne entert. Und während das vorherige Line-up „viele FLINTA* und queere Personen und Zuschauer*innen der Gen-Z anzog“, wie Bookerin Vanessa das Publikum beschreibt, ändert sich die Crowd, kurz bevor „Herz an Herz“ durch Hamburg schallt. „Das war von unserer Seite aus ein durchaus prognostizierter Shift“, erzählt Navina und erklärt, dass die Publikumsanalyse ein wichtiger Aspekt präventiver Awareness-Arbeit sei. Und tatsächlich wechselt das Awareness-Team vor Ort „vom Präventionsparadox in die tatsächliche Arbeit“, als der Main Act näher rückt. Denn hier kommen – oft männliche – Fans auf die Fläche, die Blümchen seit 30 Jahren verehren. „Wir haben unsere Veranstaltung aber als Chance gesehen, für diese Zielgruppen, die aus einem männlich geprägten Feierkosmos kommen, ein alternatives Feiern zu bieten und so indirekt Bildungsarbeit zu leisten“, sagt Hendrik. Navina pflichtet bei: „Awareness ist gewaltpräventive Arbeit und die passiert genau an solchen Tagen, an denen Informationen an ein durchmischtes Publikum übergeben werden können.“
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„Awareness ist gewaltpräventive Arbeit und die passiert genau an solchen Tagen.“
Als sich die Sonne hinter der Bühne endgültig verabschiedet, schaffen es übrigens doch noch cis Männer auf die Bühne – als Backgroundtänzer für Jasmin Wagner, die in formvollendeter 2000er-Manier mit Cheerleader-Performance die Bühne entert. Und während das vorherige Line-up „viele FLINTA* und queere Personen und Zuschauer*innen der Gen-Z anzog“, wie Bookerin Vanessa das Publikum beschreibt, ändert sich die Crowd, kurz bevor „Herz an Herz“ durch Hamburg schallt. „Das war von unserer Seite aus ein durchaus prognostizierter Shift“, erzählt Navina und erklärt, dass die Publikumsanalyse ein wichtiger Aspekt präventiver Awareness-Arbeit sei. Und tatsächlich wechselt das Awareness-Team vor Ort „vom Präventionsparadox in die tatsächliche Arbeit“, als der Main Act näher rückt. Denn hier kommen – oft männliche – Fans auf die Fläche, die Blümchen seit 30 Jahren verehren. „Wir haben unsere Veranstaltung aber als Chance gesehen, für diese Zielgruppen, die aus einem männlich geprägten Feierkosmos kommen, ein alternatives Feiern zu bieten und so indirekt Bildungsarbeit zu leisten“, sagt Hendrik. Navina pflichtet bei: „Awareness ist gewaltpräventive Arbeit und die passiert genau an solchen Tagen, an denen Informationen an ein durchmischtes Publikum übergeben werden können.“
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Hendrik denkt jetzt laut: „Vielleicht sollte man beim Booking sogar noch genauer darauf achten, welches Publikum bestimmte Acts anzieht, auch mal bei anderen Festivals nachfragen.“ Navina interveniert: „Das verschiebt ein bisschen die Verantwortung – klar ist es cool, auf all diese Dinge zu achten, aber wer verantwortlich dafür ist, sich fehlzuverhalten, sind die Leute, die sich fehlverhalten. Nicht die Menschen, die Blümchen gebucht haben.“ Trotzdem habe das Team bei jedem Act die zehn beliebtesten Lieder proaktiv gehört, ein Gesamtbild geschaffen. Denn: „Ich wollte, dass man das Line-up zuhause durchhört und sich das wie eine kuratierte Playlist am Puls der Zeit anfühlt und mensch direkt merkt, dass wir uns sehr liebevoll und thematisch mit dem Booking auseinandergesetzt haben“, ergänzt Buback-Chefin Vanessa.

Nicht träumerische Utopie, sondern harte Arbeit

„Diese Produktion war die erste, die ich so erlebt habe, weil ich es aus dem Veranstaltungskontext eher so kenne: Es muss billig sein, es muss schnell sein, es muss pragmatisch sein“, erzählt Hendrik. Beim *Schanze entstanden jedoch Konzept und Booking, Artwork und Organisation im ständigen Austausch unter fair bezahlten Personen, die nachhaltige Arbeit leisten. „Ich bin total dankbar für diese Möglichkeit, die uns durch die Förderung gegeben wurde – ohne das Geld wäre diese Arbeit nicht machbar gewesen“, lobt Navina die Spielwiese, die durch die finanzielle Unterstützung entstand.

Am Ende komme ich wie ein Boom-Boom-Boom-Boomerang immer wieder bei der Erkenntnis an: Die Utopie eines safer Feierns ist keine, sie ist möglich. Aber nur mit einer klaren Vision, harter Arbeit – und den nötigen Mitteln.

Dies ist die Bühne des Schanze Open Air