Einatmen. Ausatmen. Zunge raus. Augen verdrehen. Loslassen. Für Martin Kohlstedt ist ein Auftritt der absolute Befreiungsschlag. Der Komponist, Pianist und Produzent findet sein Ventil in der Musik.
Gleichzeitig gibt es für ihn auch die Business-Komponente, sein eigenes Label, die Personifikation seiner eher kritischen, nach Sicherheit strebenden Seite. Martin ist Ausbruch und Zurückhaltung, Leidenschaft und Stolz; immer wahrhaftig. Seine Konzerte bewegen, sie sind immer neu, nie vorhersehbar und wecken immer andere Gefühle.
Im Sommer hat er auf dem Arte Concert Zeitgleich Festival - einem Livestream Event vom Watt en Schlick, Sound of the Forest und Rocken am Brocken - gespielt. Wir haben Martin im Harz vor einer atemberaubenden Berg- und Waldkulisse getroffen, und mit ihm über seine Musik, seine Ängste und avantgardistische, russische Elektro-Festivals gesprochen.
Du hast auf der Bühne auch gerade deinen “Tunnel” angesprochen? Wie sieht der für dich aus? Was fühlst du? Woran denkst du?
Hast du währenddessen einen Tick entwickelt oder irgendeine Gewohnheit, die du ganz schlimm fandest, oder auch sehr angenehm?
Oh ja, da ist einiges, was ich ganz schlimm fand. Gerade wenn ich auf die Monate zurückblicke. Ich bin teilweise zu faul geworden meine sechs bis neun Treppenstufen im Haus hochzulaufen um mir richtige Klamotten anzuziehen. Mein Tick war eigentlich jeden Tag wie ein Murmeltier auszuschauen und das mit den immergleichen Sachen. T-Shirt als Hose tragend. So bin ich auch jeden Tag in die gleiche Routine gefallen. Lange ausschlafen, weil man das gerade kann. Meine Sachen vom Vortag angehabt und nach unten ans Klavier. In den Tag hinein gelebt und Sachen aufgenommen, neue Stücke gemacht und die Zaghaftigkeit aufgegeben. Mir selbst gesagt, dass es jetzt einfach so sein darf wie es ist. Das hat bei mir Krämpfe gelöst und war wirklich sehr sehr schön.
Hättest du dir die Zeit genommen, wenn Corona nicht gewesen wäre?
Es war geplant fürs Album-Aufnehmen Zeit zu nehmen. Aber das kennt man ja: Dann muss es doch in einem Monat fertig sein und es hätte wahrscheinlich in einem Desaster geendet. Und plötzlich hatte ich die Zeit und die Chance mir zu sagen:
Jetzt machst du mal ein Album, wie du es dir im Bilderbuch vorstellst. Aber auch das wurde dann zum Desaster. Dieses Murmeltier-Leben hat mich Wochen vergessen lassen. Ich habe gemerkt, ich verfaule.
Mittlerweile normalisiert es sich wieder bei dir?
Allein, dass wir hier sitzen und ich gerade das Konzert spielen durfte, ist schon ein Ausblick auf Normalität. Zu wissen, wir sind irgendwie da und spüren, dass die Menschen auch Live Konzerte vermisst haben.
Gehst du privat auch auf Festivals?
Ne, das wird dann zu viel. Man ist auf so vielen Festivals unterwegs, dass das völliger Unfug wäre. Man macht die Tour eher zum Urlaub und entscheidet dann, ob man länger auf dem Festival bleiben möchte. Das ist wie unser eigens geschaffenes Familienmodell. Immer mit Auto, in dem man dann auch schläft.
Erinnerst du dich an deinen schönsten Festivalmoment aus den letzten Jahren? Egal ob auf der Bühne oder im Backstage?
Richtiges Freiheitsgefühl in dem Moment.
Bei mir geht es sehr viel um solche Momente - solche Freiheitsmomente. Deswegen kamen zum Beispiel auch irgendwann die elektronischen Instrumente zum Klavier dazu. Ich brauchte immer härtere Werkzeuge um mich selbst aus dieser Routine zu bringen. Das hilft mir beim Spielen flüssig und dynamisch zu bleiben und nicht wieder in vorgefertigte Muster zu fallen.
Improvisation kann man sich einreden. Du ertappst dich dabei, dass die Konzerte irgendwann ähnlich klingen. Da musste ich mir selbst ein Bein stellen, das ging nicht anders.
Das Neue kann das Papier wieder weiß streichen. Auf einmal hatte ich viel mächtigerer Mittel, meine Gedanken nochmal komplett zu verwerfen. Dadurch habe ich mich auch ertappt, wie ich auf einmal auf der Bühne geschrien habe und Dinge gemacht, die ich vorher noch nie gemacht habe, die dann aber trotzdem aus mir heraus gekommen sind. Wenn man das dann auch zulässt, löst das um dich herum und auch bei dir selbst wahnsinnige Wellen aus.
Du spielst ja auch viel auf internationalen Bühnen. Gibt es Unterschiede auf den Festivals und Konzerten im Ausland? Was hast du wahrgenommen?
Ja, die Mentalitäten sind anders und ebenso der Umgang mit Live-Musik. Da stehe ich in Belgien und die Menschen klatschen nicht während des Konzerts und alles schaut verschwiegen aus. Du glaubst du versetzt gerade alle in Langeweile. Dann fährt man 80 Kilometer weiter in die Niederlande, da starten sie mit stehenden Ovationen und du fühlst dich gleich richtig abgeholt. Da merkt man plötzlich, wie sehr man von den verschiedenen Mentalitäten abhängig ist.
Es sind ganz viele Blickwinkel, aus denen man aber auch viel lernen kann,was einem am meisten bedeutet. Im Label fördern wir gerne die kleinen Auftritte und versuchen, in jedem Land auch kleine Städte einzuplanen um diese kleinen Zeremonien dort zu feiern, wo den Menschen die Musik an erster Stelle steht.
So unterschiedlich die Länder sein können, können es doch vielleicht auch die verschiedenen Locations. Du hast ja auch schonmal in der Elbphilharmonie in Hamburg gespielt. Wie fühlt sich so etwas für dich im Kontrast zum Festival an?
Wenn man in einer großen Kirche, in der Elbphilharmonie oder einer klassischen Halle ist, wird durch diese statische, steife Umgebung auch gleich etwas eher Steifes von mir verlangt. Da mache ich intuitiv meistens das Gegenteil. Ich merke, wie dann sofort Elektronik raus quillt und es eher scheppern soll. Man nutzt diese Reibung aus, um den Abend zu entwickeln. Und ja, gleiches gilt manchmal auch für Festivals, wenn um mich herum die großen, lauten Bühne sind, spiele ich gerne leiser Piano. Einfach so, dass man es kaum hören kann. Wie bei den Ländern, ist es auch auf den verschiedenen Veranstaltungen. Das Publikum ist immer anders.
In den klassischen Häusern treffen sich auch gerne Menschen, die rotweinschwenkend versuchen, sich den neoklassischen Begabtenkomplex reinzusaufen. Nach dem Motto: „Ach schön, sind wir intellektuell heute.“ Diese Erwartung nicht zu entsprechen und sich dann auf Augenhöhe mit dem Publikum wiederzufinden. Erst dann herrscht eine gewisse Leichtigkeit und es wird richtig romantisch.
Man wächst mit dem Publikum zusammen, man ist nicht der Revoluzzer und kämpft gegen das eine oder das andere. Man findet sich und erfährt zusammen was Neues und wird dadurch auch erwachsener.
Ja, ganz genau! Schön, zusammengefasst.
Wovor hast du Angst?
Ich muss wirklich sagen, tief im Innern bin ich noch immer auf das Eichsfeld [Landkreis in Thüringen, Anm. d. Red.] getrimmt. Da wird man sehr früh schon auf das Arbeitsleben vorbereitet und irgendwann wird die Kindheit gekappt und dann heißt es: „Kümmere dich, Junge!“ Für mich ist wichtig, auch langfristig ein paar Rücklagen zu haben. Ich möchte mich und meine Leute durchbringen. Ich möchte für meine Mitarbeitenden Sicherheiten bieten. Ich möchte deswegen ruhig schlafen können. Da bin ich brutaler Selbstexistenzbeschützer. Momentan ist meine größte Angst, ob solche Veranstaltungen, wie unsere geplante Europatour für Februar/ März stattfinden. Es ist also immer dieser alte, 50-prozentige Eichsfelder in mir, der plant ein bisschen weiter voraus und jetzt ist Abwarten angesagt. Ganz unschön im Wartezimmer zu sitzen.
Da du gerade davon sprichst. Wie bist du aufgewachsen, wie war deine Kindheit? War das Ziel eher Ausbildung, Beruf und im Anschluss Geld verdienen? Kam Druck von deinen Eltern?
Nein, es kam nie direkter Druck. Es war wohl eher die ganze ländliche konservative, katholische Gesellschaft des Eichsfeld, die diesen Druck spiegelte. Der Druck von außen der einem versucht mitzuteilen: „Jetzt komm‘ mal zu Potte!“ Es gab da auch die Metapher vom “Triebe Abschneiden”. Also immer wenn du auf eine Idee kamst, die es vorher noch nicht gab, wurde da sofort mal geschnitten. Aber, wenn ich ehrlich bin, erhöht das nur den Druck im Kessel, sodass du dann irgendwann doch überläufst und mit den Ideen zu Tage kommst.
Dann befreist du dich auf einmal schreiend aus diesem Gerüst und du tickst ganz plötzlich einfach aus. Das hat sich bei mir in der Musik geäußert.
Da hat sich ganz viel Kreativität und Mündigkeit angestaut, wofür die Musik dann mein Kanal war. Im Studium hatte ich versucht, statt Musik etwas anderes zum Ausdruck zu bringen. Ich habe Medienkunst und Mediendesign an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert und habe mich dort mehr mit Science-Fiction Büchern und Robotern beschäftigt. Musiker zu werden war damals in meiner Umgebung wie Astronaut zu werden. Begriffen haben es dann alle in der Elbphilharmonie, dass es doch ein bisschen ernster gemeint war.
Selbst mein Opa hat nach dem Auftritt gesagt: „Ja Martin, das kann man hier schon mal genießen, aber kreativ bleiben, das musst du hinkriegen!“ Es sind Formen der Liebe und der Sorge, die ich mit einem herzerwärmenden Schmunzler annehme und schlucken kann.
Und die wahrscheinlich auch antreiben?
Total, man kann nicht hier sitzen bleiben und sich zurücklehnen und denken, ja jetzt bleibt alles so wie es ist. Man muss immer wieder aufs Neue Schlips-Tretereien vermeiden immer auf andere aufpassen und immer neu denken und probieren. Da hatte er Recht mit.