Letztes Mal Nachtdigital: Für viele Stammgäste ein Grund, sich das ein oder andere Tränchen aus dem Augenwinkel zu wischen. Denn die Nachti war eins der letzten Festivals seiner Art, das nicht versucht hat, vieles zu sein, und trotzdem vieles war. Ein Beispiel? Anstelle von Workshops und politischen Debatten darüber, wie eine bessere Welt aussehen könnte, wurden auf der Nachti kulturelle Barrieren noch mit Taten eingerissen. Sogar die zu den Bayern.
text Ann-Sophie Henne
redaktion Jonas Rogge
fotos Ann-Sophie Henne
Ich laufe über das Festivalgelände, in dem sich Störche, Schwäne und einige Segler tummeln, in dem Schilflandschaft in Wiese in Sand übergeht und in dessen Mitte ein idyllischer See liegt, und habe ein eigentümliches Gefühl. Warum? Ich kann die Nachti, wie sie von ihren Stammgästen liebevoll genannt wird, nicht einordnen. Sie möchte sich nicht in meine Schublade mit der Aufschrift „diese Art Festival“ schieben lassen. Damit meine ich ein kleines, linkes, elektronisches Festival mit weitgehend unbekanntem Line Up und Fokus auf guter Soundqualität. Dort gibt es meistens viel Kunst, viel Yoga, eine Palette politisch-gesellschaftlicher Workshop-Angebote, eine absolut märchenhafte Dekoration inklusive aufwendig gebauter Stages. Das kollektive musikalische Guilty Pleasure, wenn es denn eins gibt: Disco und 90’s Trash, aber auch nur, wenn man sich gerade richtig crazy fühlt.
Vielleicht sind es Vorurteile, aber weil ich mich selbst in vielen dieser Muster wiederfinde und weil Stereotypendenken Spaß macht, sage ich es trotzdem: Aus meiner Perspektive ticken wir, die auf die Art oben erwähntes Festival gehen, im Großen und Ganzen relativ ähnlich. Unser Musikgeschmack liegt irgendwo zwischen Techno und House, aber alle mögen trotzdem die Rolling Stones. Wir sind sehr links, sehr solidarisch, kulturell sehr offen, gesellschaftlich mehr oder weniger aktiv engagiert, nur eben gerade nicht, denn gerade brauchen wir mal eine Pause von unserer eigenen Großherzigkeit und müssen uns eben kurz das Gehirn aus dem Schädel ballern. Like: veganes Essen, Yoga, deepe Gespräche, „FCK NZS“-Sticker. Don’t Like: Almans auf Mallorca, EDM, Gangster-Getue, Fremdscham. Hate: Jede*n, der/die im Spektrum rechts von uns liegt.
Was haben dröhnender Techno in erstklassiger Soundqualität und ein Weißwurstfrühstück gemeinsam?
Wie gesagt, das war jetzt sehr zugespitzt, und würde mir das jemand an den Kopf werfen, wäre ich natürlich empört. Trotzdem bin ich freitags bei meiner Ankunft eben überrascht, dass hier mit purer Leidenschaft eine hemmungslose Karaoke-Performance nach der anderen hingelegt wird – inklusive Verkleidung. Und für Samstag mit einer überdimensional großen Brezel ein „Frühshoppen“ angekündigt ist, inklusive Weißwurstfrühstück und Oktoberfest-Hits. Kann es witzig sein, wenn linke Nasen gemeinschaftlich Weißwurst in sich hineinstopfen, Weizenbier trinken und Udo Jürgens mitgrölen? Wirklich, vor zwei Wochen wäre meine Antwort anders ausgefallen. Aber ja, verdammt. Es ist fast unwiderstehlich, wie das Nachti-Publikum einen Weg gefunden hat, sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Statt Techno-Elitismus gibt es hier einfach nur gute Laune.
Das absolut unerwartete Highlight für mich – trotz konstant hochwertiger Musik – ist dann der Samstagnachmittag, 17 Uhr, Klub Animadiso. Zuerst werden unter dem Programmpunkt „Massenhochzeit“ in einem symbolischen Akt etwa 20 Festivalgast-Paare von einem schauspielerisch sehr talentierten Geistlichen getraut. Im Anschluss soll es für die frisch Getrauten in die Flitterwochen gehen: „Und wo könnte man die besser feiern“, ruft der Prediger in dramatischem Bariton von seinem Gefährt herunter, „als im schönen Olganitz?“
Gesagt, getan. Das selbsternannte „Love Mobil“, auf dem Pastor, DJ und einige Tänzer*innen stehen, tuckert mit dröhnendem Bass aus dem Festivalgelände hinaus in das 88 Einwohner*innen-Dorf Olganitz. Mitsamt allen Festivalgästen, die mitkommen wollen.
Umzug durch Olganitz, oder: Kollektives Vorurteileabbauen
Ehrlich gesagt, bis zu diesem Punkt bin ich nicht wirklich überzeugt, ob ich an diesem Umzug teilnehmen will. Es ist purer Zufall in Form einer charmanten Nachti-Bekanntschaft namens Sonja, die mir das Event dringlichst ans Herz legt. Doch während ich dann in mediokrer Stimmung der Menge hinterherstiefele, passiert etwas, das mich unerwartet direkt ins Herz trifft.
Es ist die Begegnung mit den Bewohner*innen von Olganitz. Als wir das Ortsschild passieren und in eine kleine Straße hineinlaufen, an der Alt und Jung hinter den Gartenzäunen steht und uns entgegenblickt, wird mir nämlich mit einem Mal bewusst, dass wir uns mitten in Nordsachsen befinden. Ich erinnere mich an die Hinfahrt von Leipzig hierher, auf der wir uns über die Masse an AfD- und NPD-Plakaten ausgelassen hatten. „Wer sind diese Wähler nur“, erinnere ich mich gesagt zu haben. Bei der Europawahl 2019 hat die AfD im Landkreis Cavertitz, zu dem auch Olganitz gehört, 32,3 % der Stimmen bekommen und lag damit vor der CDU und der Linken. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf fange ich an, die Menschen hinter den Zäunen und Fenstern skeptisch zu beäugen. Und sehe: nur lächelnde Gesichter.
„Wir hoffen, es gefällt euch hier in Sachsen.“ - Frau am Zaun
Das Lächeln auf den Gesichtern ist das Erste, was mir auffällt, doch die Olganitzer*innen sind noch für viel mehr Überraschungen gut. Sie haben auf der gesamten Route kleine Essens- und Getränkestände aufgebaut, spritzen uns auf Wunsch mit Gartenschläuchen nass, eine Familie stellt sogar ein eigens eingerichtetes WLAN zur Verfügung. Es sind über 30 Grad, und aus irgendeinem Grund habe ich Gänsehaut am ganzen Körper und Tränen in den Augen. Ich sehe Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aufeinander zugehen und miteinander sprechen. Menschen, die zu sehr großer Wahrscheinlichkeit ihr Kreuzchen bei der kommenden Landtagswahl woanders setzen werden. Und vielleicht, nur ganz vielleicht, ist dem ein oder anderen ängstlichen Bürger bei so viel Unbeschwertheit und Vielfalt gerade genauso das Herz aufgegangen wie mir, und er wird sich im September gegen eine Partei entscheiden, deren Wahlprogramm aus Ausgrenzung besteht.
Trotz aller Romantik komme ich bei diesem Marsch manchmal nicht ganz umhin, mich ein bisschen wie ein Zootier zu fühlen, das irgendeinen Auftritt hinlegt, von dem es nichts weiß. Doch es kommt in einem kleinen Dorf eben nicht jeden Tag vor, dass ein Zug von etwa 200 freizügig und bunt angezogenen Menschen mit lauter Musik und einem bestens gelaunten Fake-Pastor am Mikrofon durch die Straßen zieht.
Aus Versehen mehr als Hedonismus.
Als wir zurück Richtung Festivalgelände laufen, ertappe ich mich dabei, wie ich die Nachti in meinen Gedanken nun ebenfalls beim Spitznamen nenne. Ich habe das Gefühl, ich habe gerade ihr Wesen kennengelernt. Und bin fassungslos, wie viel Charakter da in ihren Tiefen schlummert.
Meine Gefühle zu ihr mit „Liebe auf den zweiten Blick“ zu beschreiben ist vielleicht etwas übertrieben, denn geflirtet habe ich schon ab dem Moment, als ich das Festivalgelände betreten habe. Doch die unprätentiöse Art, wie sie auf Pseudo-Politik verzichtet und stattdessen lieber Taten sprechen lässt, deren gesellschaftspolitische Wirkung zu keinem Zeitpunkt marketingtechnisch ausgeschlachtet wird – sorry, aber da haben die Funken geschlagen.
Wie liebenswürdig ist es bitte, seinen Fokus ungeniert auf Spaß und ein geiles Booking zu legen, und dann fast aus Versehen so viel mehr zu sein als purer Hedonismus?
Merci für die Stunden, Chérie.
Wäre das nicht dein letztes Mal gewesen, liebe Nachti, dann hätte ich bei der dreiundzwanzigsten Massenhochzeit ganz sicher dich geheiratet. Es ist eine Schande, dich erst so spät kennengelernt zu haben. Und so bleibt mir nur, noch ein letztes Mal (in meinem Leben) Udo Jürgens zu zitieren, während ich mir heimlich eine Träne von der Wange wische:
"Merci,
Merci,
Merci für die Stunden, Chérie.
Chérie,
Chérie uns're Liebe war schön.
So schön."