Mit über 40 Acts auf 3 Bühnen vor 3000 Gästen stellt die Tapefabrik als größtes nationales Underground Hip-Hop Festival auf beeindruckende Art und Weise fest, wie vielfältig und kreativ Hip-Hop abseits von Modus Mio anno 2019 sein kann.
text Sebastian Bondrea
redaktion Tina Hyunh-Le
fotos Laura Burdak
„Die Zeit ist reif für den neuen Scheiss…“, tönt es aus den Boxen, die Bühne färbt sich in einem Gemisch aus lila und blau, während im Saal die Hände energisch hoch und runter wippen und Hip-Hop Heads ihren Nacken beanspruchen, als wäre energisches Ja-Sagen olympische Disziplin. Als wäre der Millenniumswechsel gerade erst vollzogen worden, steppen zwei augenscheinlich gut aufgelegte MCs ans Mic, um Greetings über den Ether rauszuschicken. Als wären Helly Hanson Regenjacken und Fila Sweater der dopeste Shit… Ok, ok, Timeout, jetzt wird es absurd. „Selten hat sich 2019 so sehr nach 2000 angefühlt wie in diesem Moment“, erzählt ein sichtlich erfreuter Gast, der es vom Alter her vermutlich wissen kann. No frontin.
Willkommen zur Tapefabrik in Wiesbaden, der jamgewordenen Zeitkapsel für Sprechgesang.
Wobei diese Eingrenzung der Veranstaltung in zwei Punkten nicht gerecht wird. Erstens: An diesem verregneten Samstag im März 2019 wird mehr als nur das rhythmische Reden ins Mikrofon zelebriert. Rapper*innen, DJ*innen und Produzenten*innen kriegen alle eine Bühne, um unter einem Dach Hip-Hop zu feiern. Dazu bietet das Line-up ein geschmackvolles Potpourri aus young Guns und alten Hasen, welche das vielfältige Bild, das Hip-Hop Deutschland momentan abgibt, wiederspiegelt. Von schwermütig-melancholischem Samplesound der 90s über düsteren Hinterhof-Ganovenrap bis zu zitterndem Trapgewitter ist für jeden Geschmack etwas dabei. Und zweitens: Lässt man seinen Blick über den Außenbereich der Anlage schweifen, um sich die knapp 3000 Gäste mal näher anzuschauen, sticht es einem direkt ins Auge: Diese Jam ist nicht nur für Hip-Hop Puristen der Generation X eine Anlaufstelle für gute Musik. Yessir.
Seit 2012 öffnet die Tapefabrik jährlich ihre Pforten und präsentiert ihren Gästen dabei eine gelungene Vielfalt an Rap-Größen und vielleicht-bald-Größen. So durften sich schon mittlerweile längst dem Korsett der Hip-Hop Szenen entledigte Schwergewichte wie Zugezogen Maskulin, Haftbefehl oder UFO 361 auf der Bühne austoben und auch in diesem Jahr stellt man sich unweigerlich die Frage, ob da auf der Bühne vielleicht eine*r der nächsten Vertreter*innen dieses Genres bereitsteht, die*der die nationalen Feuilletonseiten künftig füllen wird. Ya know what I mean?
Mekka der Dopeness
Das Bühnenbild auf der Main Stage zeigt ein Kraftwerk, gezeichnet auf einer 10 Meter hohen Leinwand, dicke Betontürme stoßen darauf abgebildet dichte Rauchschwaden in den Himmel, Treppen aus kaltem Stahl schmiegen sich an die Außenfassade und unterstreichen den Industriecharme. Wer es nicht verstanden hat, hier ist es schmutzig und rau, hier ist unten, hier ist Hip-Hop. Im Vorraum der Halle stecken neugierige Vinylliebhaber*innen ihre Köpfe in die Plattenkisten der Plattenverkäufer*innen, Merchandise Artikel noch und nöcher stehen zum Erwerb, um der gemeinen Menge bereits aus sicherer Entfernung zu zeigen, wegen wem man heute im Speziellen hier ist. Vor den Bühnen entfaltet sich ein traditionell-progressiver Jam-Charakter, bei dem Freestyle Cyphers im Publikum genauso ihren Platz finden wie turn-up. Skrrr.
Und während sich die Gäste auf der Main Stage und der MZEE Stage mit 7 Stunden Live Musik und Performance die Zeit vertreiben können, wurde den Beatmaker*innen und DJ*innen von den Veranstaltern*innen eine eigene Bühne spendiert, auf der den ganzen Abend Beatset auf Beatset folgt. Mehr Hip-Hop geht dann langsam nicht mehr. Und so kann man der Crew hinter der Veranstaltung durchaus zusprechen, ein ausgewachsenes Gespür für Artistbooking und Soundvorlieben des gemeinen Rap Heads zu haben. Was dieser wiederum mit vollen Bühnen und anschließend vollem Floor auf der Aftershow-Party, auf der von Royal TS bis Cardi B alles abgefeiert wird, bis in die frühen Morgenstunden honoriert. Mehr Diversifikation geht dann langsam nicht mehr. DJ, spin that shit!
Underground will live forever
Letzten Endes kann, in der Summe, der ganzen Veranstaltung schon attestiert werden, dass der Sound mehr in eine klassische Boombap-Richtung geht. Wie sich das für eine Jam im herkömmlichen Sinne gehört. Und wenn man dazu noch das Label „Untergrund“ angeheftet haben möchte, sowieso. Aber warum überhaupt „Untergrund“? Sind 3000 Gäste auf einer Jam noch „Untergrund“? Ist Hip-Hop respektive Rap/Trap/ Feuilleton-Begriff XY nicht die stilprägende, Charts dominierende, überpräsente Musikrichtung der Neuzeit? Hell yeah!
Aber abseits von Clicks und Gucci Cap, von Twitter-Beef und Bildschlagzeilen gibt es eine brodelnde Menge an künstlerischer Kreativität im zweiten, dritten und vierten Rap-Regal, deren gebündelte Kraft sich an Ort und Stelle im Schlachthof Wiesbaden entlädt. Hier findet eine Vermengung verschiedener Sub-Rap-Szenen (ja, richtig, die eine Rap-Szene als solche existiert nicht mehr oder denkt hier wirklich jemand, ein Mero und ein AzudemSK wären Teil ein und derselben Szene?) einen ihrer jährlichen Peaks. Word.