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Erinnerungen vom Melt! Festival 2019

Ab ins Stahlbad


Zum 22. Mal lud das Melt! nach Ferropolis ein und über 20.000 Besuchende folgten dem Ruf. Trotz widrigen Umständen vor und während des Festivals gelang es den Veranstalter*innen und den Gästen dank der richtigen Prise Spontanität, Kreativität und Durchhaltevermögen ein weiteres Highlight in der Festivallandschaft zu erschaffen.

text Sebastian Bondrea
redaktion Henrike Schröder
fotos Sebastian Bondrea, Nils Lucas

Auf wackligem Bein steht er da. Eine Schweißperle rinnt ihm die Stirn herunter und tropft ihm auf die Sonnenbrille. Die ehemals weißen Tennissocken wirken nicht, als würden sie dieses Wochenende überleben. Eine Schachtel Zigaretten fällt ihm aus der Bauchtasche, die er quer über die Brust trägt. Die Arme hat er links und rechts vom Körper gestreckt, das andere Bein angewinkelt zu einem Dreieck, der Fuß schließt am Oberschenkel ab. Diese Pose hält er stolze 1,5 Sekunden lang durch, bevor sein berauschter Zustand in Verbindung mit Schlafentzug und fehlendem Körpergefühl ihn aus dem Gleichgewicht bringen und ihm wiederholt einen Strich durch die Rechnung machen. Okay, auf ein Neues. Nicht aufgeben.
Um ihn herum versuchen sich weitere angehende Körperkünstler an mal mehr, mal weniger anspruchsvollen Figuren – mit mäßigem Erfolg. Den Spaß lässt sich hier dennoch keiner nehmen, unabhängig davon, ob er/sie gerade ausgeschlafen aus dem Zelt oder direkt vom Sleepless Floor den Weg hierher gefunden hat. Es ist Samstagmorgen: Zeit für Yoga in der Stadt aus Eisen. 

Im Schatten der Tagebau-Kräne, die in Kombination mit dem Sand und der staubigen Luft an ein düster-dreckiges Szenario aus den “Mad Max”-Filmen erinnern, wird alles geboten, was dem/der Festivalgänger*in beliebt: Food Courts für den Gaumen, musikalische Highlights für die Ohren, Diskussionsrunden für den Intellekt und sportliche Betätigung für den Körper. Darüber hinaus gibt es Ausstellungen wie den Secret Garden of Porn, der eine künstlerische Verschmelzung aus Performance Art und Queer Porn darstellt und – ganz im Sinne des urbanen Zeitgeistes – die Präsentation eines neuen Sneakers einer US-Firma, die dafür bekannt ist, den Bogen raus zu haben, wenn es um Style und Marketing geht. Für die meisten Geschmäcker und Interessen lässt sich hier etwas finden. 

„Drei Tage Cherry Picking“

Das Herzstück des Festivals ist neben der gebotenen Vielfalt aber natürlich die Musik. Melt!, das ist ja traditionell auch Auskenner*innen-Shit. Auf fünf Stages findet man alles, von bekannten bis unbekannten Künstler*innen, Indie, Rap, Techno, Turn-Up oder Musik zum Anlehnen. „Drei Tage Cherry Picking“, hörte ich einen Festivalbesucher sagen, und diese Einschätzung ist nachvollziehbar.
Oft spielen Künstler*innen, die man eigentlich dick im Line-Up markiert hat zeitgleich und man hat die Qual der Wahl. Auf der Melt! Stage stehen Musiker*innen wie Rin oder Bon Iver, die durchaus eine gewisse Größe und Bekanntheit erreicht, aber noch nicht den nötigen Über-den-Zenit-hinaus Status erlangt haben, um in Deutschland die Bühnen der ganz großen Festivals zur Primetime zu bespielen. Egal, ob man für den Live-Act mit Band und imposanter Lichtershow oder die Dauerbeschallung auf dem Sleepless Floor gekommen ist, die Chancen stehen gut, dass man Ferropolis mit einem zufriedenen Gefühl verlässt.


An dieser Stelle gilt es zunächst mal das generell geschmackssichere Händchen bei der Auswahl des Line-ups zu erwähnen. Man hat immer die Wahl und liegt gefühlt nie daneben. Man kann verträumt zu den sanften Klängen Bon Ivers herumliegen, dessen Auftritt direkt in den Sonnenuntergang gelegt und dem damit eine passende Erweiterung der Bühnenbildes für lau geliefert wurde. Oder möchte man doch lieber das mal treibende, mal melancholische, ibizaeske, völlig ausgeartete acht(!) Stunden Set von Solomun durchtanzen? Und wer es etwas härter mag, den heißen die Moshpits vor den Bühnen bei Bilderbuch, Rin oder Skepta herzlichst willkommen. 

Die Reaktionsfähigkeit, mit der das Team den bedauerlichen und kurzfristigen Ausfall ASAP Rockys auffing, war bemerkenswert. Nach einer Schlägerei Ende Juni musste dieser seinen Aufenthalt in Schweden unfreiwillig verlängern und wurde schließlich durch Stormzy ersetzt. Ein paar Wochen zuvor spielte der noch als zweitjüngster (nur David Bowie war bei seinem Auftritt 1971 jünger) und als erster schwarzer, britischer Solokünstler als Headliner auf dem legendären Glastonbury Festival. Zudem war sein Auftritt beim Melt! der einzige in Deutschland 2019. Chapeau.  Apropos UK-Künstler*innen: Neben Stormzy waren mit Jorjah Smith am Freitag und Skepta am Sonntag UK-Grime und UK-R&B prominent vertreten und manch eine*r konnte sich den ein oder anderen politischen Seitenhieb gegen die eigene Regierung nicht verkneifen. So meinte ein Besucher nach dem Konzert von Skepta:  

„Wenn noch jemand Gründe gegen den Brexit sucht, ich hätte da was.“ 

Es gibt kein schlechtes Wetter, nur ein uninspiriertes Umfeld

Neben der Absage von ASAP Rocky sorgten die äußerlichen Bedingungen am Samstagabend für einen weiteren Schockmoment: Aufgrund einer Unwetterwarnung wurden erstmal alle Auftritte für drei Stunden abgesagt, Ausgang zu diesem Zeitpunkt ungewiss. Doch das Gewitter bereitete die Bühne für ein unerwartetes Highlight vielerorts. So wurde das Festivalgelände während des Sturms komplett geräumt und die Gäste in überdachte Bereiche gebracht: Lagerräume, Toilettenhäuser oder ähnliches. Doch die Party war damit nicht vorbei.
An verschiedenen Schauplätzen auf dem Gelände entstanden kleine, ausufernde Guerilla-Partys mit nicht mehr als einem Smartphone, einer Bluetooth-Box, Taschenlampen die zum Strobolight umfunktioniert wurden und Personen, die gar nicht einsahen, dass die Party aufgrund des Unwetters enden sollte. Dem digitalen Zeitgeist entsprechend machten schnell Videos und Bilder dieser Events die Runde. Sie zeigten Menschen in Abstellräumen, die ihre Versionen von Songs der Lighthouse Family oder Backstreet Boys zum Besten gaben und ließen Waschräume wie Untergrund Techno Clubs erscheinen.

Selbst nachdem der Regen vorbei war und von Seiten des Veranstalters die Fortführung des Programms bestätigt wurde, konnte man aus dem Duschraum auf dem Campingplatz noch laute Musik, flackerndes Licht und inbrünstiges Mitsingen vernehmen. Und als dann gegen 6:00 Uhr morgens die Sonne die Welt in ein zartes Licht hüllte und die tatsächlichen materiellen Schäden des Gewitters entblößte, waren sich doch die meisten einig, dass die Nacht nicht viel besser hätte laufen können.

Stormzy trat am Ende auch noch auf, gegen 2:00 Uhr nachts und sorgte endgültig dafür, dass wirklich niemand mehr an das Gewitter dachte. 

Festivalfinder

Melt! Festival 2020

17. – 19. Juli – Ferropolis


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