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Zwischen Wachstum und Krise


Warum das Musik-Ökosystem nachhaltige Strukturen braucht – und was wir vom Fußball lernen können

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Detlef Schwarte

Till Petersen

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Mit „Alles muss repariert werden“ hat die Antilopen Gang im September ihr nach eigener Aussage „niederschmetterndstes Album, das wir bislang gemacht haben“ veröffentlicht. Gilt dieses Motto vielleicht auch für den Musiksektor? Und steckt in der Aussage nicht auch die Hoffnung, dass etwas, das repariert werden muss, tatsächlich repariert werden kann?

Ein Blick auf den Fußball: Der Fußball basiert auf einem Heer von Kindern und Jugendlichen, die in Vereinen - angeleitet von ehrenamtlichen Trainer*innen - den Sport betreiben, den sie lieben. Gleichzeitig sind fast alle davon Fans eines Proficlubs, kaufen Trikots und ab einem gewissen Alter Tickets für den Besuch im Stadion. Die Vereine wiederum betreiben Kinder- und Jugendabteilungen, einige auch Nachwuchszentren, um die besten jungen Kicker*innen zu entdecken und auszubilden. Manche dieser Kids schaffen es in den professionellen Fußball, manche werden Stars und machen ihren Club erfolgreich.

Eigentlich ein gutes System, dass sich selbst halbwegs auf der Spur hält und im Breitensport fantastisch für unsere Gesellschaft wirkt. Und daran ändern auch eine korrupte Fifa, selbstvergessene Superleague-Pläne oder der wachsender Einfluss von Investoren erstmal nichts. Hier haben die Fans in Deutschland im vergangenen Jahr mit ihren Protesten wirkungsvoll Grenzen gesetzt. Also:

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Ehrenamtliches Engagement, öffentliche Förderung und die Investition wirtschaftlicher Akteur*innen wirken gemeinsam und erhalten die Basis der Nachwuchsarbeit.

Warum gelingt das, was im Fußball-Ökosystem funktioniert, nicht auch in der Musik?

Selbstverständlicher Zugang zu Instrumenten in der Schule. Ein Netz von erschwinglichen Musikschulen mit hinreichend bezahlten Lehrer*innen. Bezahlbare Übungsräume und Spielorte wie Jugend- und Kulturzentren zum Ausprobieren und Besserwerden. All das fehlt vielerorts. Dabei könnte die Musikbranche von einem Zusammenspiel aus öffentlicher Förderung und wirtschaftlichen Akteur*innen profitieren, ähnlich wie im Fußball. Geleitet von der Einsicht aller, dass die mittelfristige Perspektive des Sektors in den persönlichen Beziehungen seiner Akteur*innen liegt und nicht in der Zementierung von Wertschöpfungsketten oder der Legitimierung sich abkapselnder Systeme der Plattformökonomie.

Der neue Konsum der Gen Z

Im Fußball wie in der Musik und ihren professionellen Sphären geht es im Kern allein um die “jungen Leute”, heute die Gen Z. Die Ökosysteme brauchen sie zunächst als Fans, als diejenigen, die Leidenschaft für die Sache mitbringen, ihre Lieblinge supporten und ihnen nacheifern. Sie brauchen sie als die, die in die Sache investieren, Merch, Streaming-Abos und Tickets kaufen. Und “die Besten” werden gebraucht, um die Maschine der Träume am Laufen zu halten. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass das Investment der Profi-Clubs der Musik in das eigene Ökosystem nicht stattfindet oder erst dort beginnt, wo ein guter konkreter Deal in Reichweite scheint.
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Die jungen Leute gehen nicht mehr in kleine Clubs, um kleine Bands zu sehen. 

Die Shell-Jugendstudie erklärt: Junge Menschen suchen angesichts von Klimakrise, Kriegen und Pandemien nach Sicherheit. Wenn sie Zeit und Geld investieren, dann in Erlebnisse, die einen klar kalkulierbaren Gegenwert an Spaß und Unversehrtheit bieten. Letztlich Kontrolle in einer Welt, die schwer kontrollierbar erscheint. Das erklärt den Erfolg von Großereignissen wie der Taylor-Swift-Tour oder Wacken.

Kann erstmal niemand etwas dafür, vergrößert aber die Kluft zwischen Großen und Kleinen, schwächt die Grasrootskultur, erschwert die Nachwuchsarbeit und annuliert letztlich die Orte von der kulturellen Landkarte, in denen der Bezug zur Musik wächst oder junge Menschen motiviert werden, ein Instrument zu lernen. Kostensteigerungen, Inflation und Fachkräftemangel tun ihr Übriges beim Abwärtstrend der Klubkultur. Ebenso die schleichende politische Unterminierung von Jugend- und Kulturzentren, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern.

Eine wachsende Branche – aber nicht für alle

Diese Entwicklung passiert in einer Phase, in der wir von einer insgesamt wachsenden Musikbranche hören und lesen. Über immerhin 18% Umsatzsteigerung im Zeitraum
2019-2023 durfte sich der Sektor in Deutschland laut der Musikwirtschaftsstudie 2024
freuen. Allen Beteiligten ist dabei klar, das dieses Wachstum ungleich zwischen den Teilmärkten verteilt ist, nicht zuletzt auch bedingt durch die Digitalisierung, die das Geld in die Taschen der Streamingdienste treibt. Kleine und mittlere Unternehmen schmieden derweil strategische Kooperationen mit den Global Playern oder werden gleich ganz übernommen.

“Shareholder wollen entsprechende Renditen, also müssen wir uns möglichst effizient aufstellen. Wir müssen uns Raum verschaffen, um weiter zu investieren und zu wachsen.” So erklärt Frank Briegmann, CEO Zentraleuropa der Universal Music Group,  in der FAZ das kleine Einmaleins des börsennotierten Musikunternehmens. Jüngstes Beispiel: die Übernahme von Downtown Music durch die UMG.

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"Die zunehmende Marktkonzentration führt zu einer Verengung der Wettbewerbslandschaft, macht es für wirklich unabhängige Künstler und Unternehmen immer schwieriger, frei und gleichberechtigt zu agieren."
"Diese Übernahmen bergen die Gefahr, die unabhängigen Stimmen zum Schweigen zu bringen, die die Innovation und Kreativität in der Musikindustrie vorantreiben", berichtet Dr. Richard James Burgess, Präsident der Amerikanischen Indie Organisation A2IM. Da passt es ins Bild, dass die 2024 zugelassene Klage gegen den Merger von Live Nation und Ticketmaster in den USA unter einem Präsidenten Trump gute Chancen auf Ablehnung hat.

Geschäfte ohne Rücksicht auf Musik

Das Geschäftsmodell Ticketing kommt, anders als die klassische Arbeit einer Musikfirma, weitestgehend auch ohne Reflexion auf die Idee eines nachhaltigen Ökosystem aus. Hier gewinnt derzeit nicht der mit dem besten, sondern der mit dem mächtigsten System. Und das sogar ganz ohne ein Bekenntnis zu "Künstler*innen", "Nachwuchs" oder der "Musik" an sich. Im nichtfinanziellen Konzernbericht 2023 der CTS Eventim AG kommen diese Begriffe auf 35 Seiten jedenfalls gar nicht bzw. nur ein Mal vor. Man kann halt auch ohne erklärte Leidenschaft zur Sache der mit 2,4 Milliarden Euro Umsatz in 2023 “zweitgrößte Veranstalter der Welt” sein (Eventim über Eventim). Das wird an der Börse mit einem Plus von 50% seit Weihnachten 2019 goutiert.
Auch das Verlagswesen liefert immer wieder beeindruckende Zahlen. In 2024 u.a. mit dem Verkauf des Songkatalogs von Queen für knapp 1,2 Milliarden Euro an Sony Music. Was bei diesen Mega-Deals aber für das Musik-Ökosystem nicht aus dem Blick geraten sollte, ist die langfristige Wirkung, die solche strategischen Deals mit sich bringen. Die Käufer gehen ja davon aus und werden ihre Macht dafür nutzen, dass die - keine Frage - großartigen Werke dieser Künstler*innen weiter massiv verbreitet und ausgebeutet werden. Mit dem impliziten Effekt, dass Werke von Nachwuchskünstler*innen entsprechend weniger Raum einnehmen.
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Als regelmäßiger Hörer verschiedener öffentlich-rechtlicher Radiosender, würde ich meinen Kindern schon auch eine Welt mit etwas weniger “I'm on fire” (Bruce Springsteen, 550 Mio. Euro) oder “Private Dancer” (Tina Turner, 300 Mio. Euro) wünschen.
Und dass das alles nicht mehr viel Musik zu tun hat wird schlussendlich deutlich, wenn ein Investor einen Songrechte-Investor übernimmt, wie 2024 geschehen mit dem Kauf von Hipgnosis durch Blackstone.

Wo bleibt die Verantwortung?

Also, es ist viel Geld im System, weil die Musik so werthaltig ist – kulturell und wirtschaftlich. Dennoch gelingt es momentan zu wenig, die demokratische Basis der Musik angemessen zu sichern. “Pop und Politik gehörten schließlich schon immer zusammen”, schreibt Daniel Koch im Editorial des letzten Diffus-Newsletters in 2024.

Da liegt der Ruf nach staatlicher Regulierung und der Blick ins beispielhafte Frankreich, wo Ticket- und Streaming-Tax Realität sind, nahe. Die Überzeugungsarbeit und der Gang durch die Institutionen dürfte in Deutschland allerdings ein sehr langer werden.

Liegen darum die größeren Chancen in einer europäischen Perspektive?
Zwei EU-Gesetzesinitiativen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Kreativbranche und für mehr Fairness im Streaming wurden in den letzten 12 Monaten angestoßen. “Im Vergleich zum US-amerikanischen Musikmarkt hinkt Europa in Bezug auf die von Investoren getriebene Marktmacht hinterher. Aber mit seinen bestehenden co-organisierten Strukturen kann das europäische Musik-Ökosystem als Gegengewicht zum nordamerikanischen oder dem schnell wachsenden asiatischen Musiksektor angesehen werden.” So fasst die aktuelle Lage jüngst ein - unter Mitarbeit verschiedener europäischer Musikkonferenzen und auch mir persönlich - im Auftrag der EU-Kommission erarbeitetes Papier unter dem Titel “The European Music Ecosystem”, zusammen.

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Weitblickende politische Regulierung durch Gesetze und Förderprogramme, die Musik in der Breite und Nachwuchsentwicklung möglichst unbürokratisch unterstützt, muss der Auftrag einer Kulturpolitik auf nationaler wie europäischer Ebene sein.

Die Musikbranche braucht mehr Zusammenhalt

Daneben hängt aber die Hoffnung, dass das Ökosystem nachhaltig gestaltet und eventuell auch repariert werden kann, an den in diesem Beitrag angesprochenen Branchenakteur*innen. Stellen wir uns vor, alle würden nach besten Kräften beitragen und einzahlen auf die Struktur, auf der das eigene Geschäftsmodell letztlich fußt, ohne auf staatliche Regulierung zu warten. Ich glaube, es ließe sich mächtig was bewegen für den Nachwuchs, das eigene Ökosystem und letztlich für die Demokratie aller.

Und es bewegt sich ja auch was: Eine freiwillige Abgabe auf Tickets, die kleinen Clubs zugute kommt, wie sie die Bundestiftung Livekultur aktuell propagiert oder der Zusammenschluss aller maßgeblichen deutschen Musikverbände im Forum Musikwirtschaft im Jahr 2020 sind zwei Beispiele, die über den Tellerrand der nur eigenen Interessen hinausweist.

Da geht aber sicher noch mehr. Denn angesichts der angesprochenen offensichtlichen Gegensätze stellt sich verstärkt die Frage, ob die Branche in ihrer Heterogenität noch ernsthafte gemeinsame wirtschaftliche Ziele verfolgt, gesellschaftspolitische Werte vertritt und ob es noch eine gelebte Solidarität von kleineren und größeren Akteur*innen gibt, ohne die in jedem Ökosystem vermutlich auf Sicht die nötige Nachhaltigkeit und Resilienz fehlen wird.

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Meine Hoffnung für das Jahr 2025 ist es darum, dass wir dem Zusammenhalt auf die Spur kommen, Zeichen der Solidarität setzen und nicht nur beim RBF 2025 Ideen für ein nachhaltiges, starkes und den Werten der Demokratie verpflichtetes Musikökosystems diskutieren werden.

All das wird auch Voraussetzung dafür sein, dass die Musik in der Öffentlichkeit, den Medien und in der Politik als kraftvolle Branche wahrgenommen wird, von der alle profitieren und die mit ihrer Entwicklung zum Vorbild einer neuen Europäischen Industriepolitik wird.

Also: Das was in unserer Branche nicht funktioniert, nicht mehr zeitgemäß ist und in mancher Augen kaputt - es kann repariert werden. Aber nur zusammen.