Vlad Yaremchuk ist der Head of Booking des Atlas Festivals in Kiew. Bevor Russland den Krieg begann, war es das größte Festival in der Ukraine. Aber ungeachtet dessen, das in diesem Teil Europas immer noch der Krieg wütet, wird das Festival vom 19. bis 21. Juli ein ganz besonderes Comeback angehen.

Vlad Yaremchuk
Vlad, wie geht es dir?
Vlad Yaremchuk: Überwältigt. Gestresst.
Es ist, als würden meine beiden Jobs und alles andere gleichzeitig auf mich zukommen. Ich kann es kaum schaffen. Aber das ist allemal besser, als nichts zu tun zu haben. Es ist sehr hart und fordernd, aber gut.
Was bedeutet das konkret für dich?
Mit Music Saves UA haben wir in den letzten Monaten an einem Toolkit für Festivals gearbeitet, um Spenden zu sammeln und das Bewusstsein für die Problematik zu schärfen. Es basiert auf unseren Erfahrungen der letzten zwei Jahre, wie wir Fundraising und Sensibilisierung auf Festivals durchgeführt haben und enthält Beispiele sowie eine ausführliche Einführung darüber, wer wir sind und was tun.
Es ist eine Gebrauchsweisung für Festivals um Gelder zu sammeln. Ob für Music Saves UA oder für was auch immer sie wollen.
Wir haben zudem gerade einen Dokumentarfilm über die Music Ambassador Tour 2024 veröffentlicht, einen Film über die zweite Reise von Musikmenschen aus dem Ausland, die uns in der Ukraine besuchen.
Ein Teil des Teams wird außerdem nach Finnland zum Provinssi Festival fliegen, das das erste Festival im Rahmen unserer Sommerfestivalsaison-Tournee für Music Saves UA ist, zu der noch neun weitere Festivals hinzukommen. Bei mindestens der Hälfte dieser Tour kann ich wahrscheinlich nicht dabei sein, weil ich natürlich mit dem Atlas Festival beschäftigt bin.
Die Tour, das Team von Music Saves UA. Und dann ist da noch Atlas … unglaublich: wir machen ein Festival. Wie schon 2021 haben wir es in drei Monaten geschafft. Als wir damals, mitten in Corona, die Sonderausgabe machten - die letzte richtige Ausgabe - haben wir das Programm auch in drei Monaten von Grund neu gebucht.
Und jetzt haben wir das Jahr 2024 und wir machen ein Festival in noch kürzerer Zeit und unter noch verrückteren Umständen.
Da die Ukraine immer noch von der russischen Armee angegriffen wird: Was bedeutet das im Hinblick auf die Situation der Produktionsfirmen?
Das ist die Sache, die ich auf jeder Musikkonferenz versuche zu erklären. Wir haben wahrscheinlich die besten Produktionsteams in Europa, und sie haben immer noch ihr ganzes Equipment. Sie können unmögliche Dinge für wenig Geld umsetzen.
Selbst wenn die Kosten für die Logistik der Teams aus der Ukraine anfallen, damit sie in ein europäisches Land kommen, ist das immer noch billiger, als eure regulären Techniker-Crews. Das Engagement war immer da. Einige der Fachkräfte sind woanders hingezogen, vor allem nach Polen. Aber die Produktion ist einer der einfacheren Teile, weil wir in der Ukraine eine gute Produktionsinfrastruktur haben, die kaum genutzt wurde. Das Schwierigste ist natürlich die Sicherheitslage: der wichtigste Punkt, der über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.
Kannst du erklären, was es damit auf sich hat?
Grundsätzlich ist es ein Konzept, das vielleicht schwierig ist, bis man darüber nachdenkt, dass die Ukraine einfach ein sehr großes Land ist. Die Ukraine ist größer als Deutschland, ist größer als Polen, ist flächenmäßig das größte europäische Land. Das bedeutet, dass der Grad der Sicherheit in der Ukraine von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich ist. Es gibt Städte, die besetzt sind. Es gibt Städte, die an der Frontlinie liegen. Und deshalb werden sie jeden Tag unerbittlich bombardiert. Es ist sehr schwierig in diesen Regionen Raketen abzufangen, weil sie eine so kurze Flugzeit haben.
Dann gibt es noch das andere Ende. Da ist Lwiw, das an der westlichen Grenze in der Nähe von Polen liegt, etwa zwei Stunden von der polnischen Grenze entfernt, das sehr wenig angegriffen wird, weil die Raketen und Drohnen längere Flugzeiten haben. Und dann ist da noch Kyjiw, das in der Mitte liegt.

Es ist keine Frontstadt, wird aber dennoch angegriffen. Allerdings verfügt es über eine unglaubliche Luftabwehr, die eigentlich hervorragend funktioniert. Wir wissen, wann etwas kommt, woher es kommt und was da im Anflug ist. Wir haben Zeit uns vorzubereiten. Es gibt einen Alarmsystem für Luftangriffe. Es gibt eine App auf dem Telefon, die einem sagt, wenn etwas kommt. Und das bedeutet, dass es seit 2022 immer wieder Veranstaltungen gibt, dass es Konzerte gibt. Sie finden statt, wo immer es möglich ist.
Viele Künstler*innen spielen auch in Städten, die an vorderster Front stehen. Music Saves UA hat Ende April für einen Tag ein kleines Festival in Saporischschja veranstaltet, und zwar komplett in einer Schutzunterkunft. Ein Festival mit einem kleinen Markt, mit Vorträgen und allen möglichen interaktiven Dingen, einfach um den Menschen Kultur nahezubringen. Denn wenn in Kyjiw Konzerte möglich sind, warum sollten die Menschen in Herkimer und Saporischschja keine Konzerte bekommen?
Ja, es ist gefährlich. Aber wir werden einen Weg finden, es irgendwie zum Laufen zu bringen und es irgendwie sicher zu machen.

Der einzige Grund, warum wir das Atlas Festival dieses Jahr veranstalten wollen, ist, dass wir einen Veranstaltungsort gefunden haben, den wir für sicher genug halten. Seit unserem zweiten Festival im Jahr 2016 haben wir das Atlas auf dem Gelände des National Expo Center veranstaltet. Da dies aber ein riesiges offenes Gelände ist, können wir es unter den aktuellen Umständen dort natürlich nicht machen. Es gibt keine Schutzräume, die nah und groß genug sind. Also haben wir ein Einkaufszentrum in Kyjiw gefunden - die Blockbuster Mall. Sie hat eine riesige Tiefgarage mit einer Fläche von mehr als 50 km², in der problemlos mehr als 100.000 Menschen Platz finden.
Natürlich werden wir nicht so viele Menschen unterbringen. Wir werden höchstens 25.000 Menschen mitnehmen, dazu gehören auch die Mitwirkenden, unser Team, die Acts und deren Crews sowie all jene mit Freikarten, die wir an Menschen mit Behinderung vergeben. Wir verwenden eine zertifizierte Software, um zu berechnen, wie schnell wir die Menschen evakuieren können, wenn der Bedarf besteht und wir verfügen Schutzräume in unmittelbarer Nähe. Von jeder Bühne des Festivals aus, können diese sehr schnell erreicht werden. Außerdem gibt es viele Eingänge und alles sind sehr breit, sodass die Menschen von mehreren Richtungen aus sehr schnell in Sicherheit gelangen können.
Was ist über Künstler*innen im Allgemeinen zu sagen. Sind sie einfach nur glücklich, auftreten zu können?
Die ukrainischen Künstler freuen sich sehr darauf, vor Publikum zu spielen. Es gab auch andere Festivals in der Ukraine, aber Atlas ist das größte und bekannteste. Dass es während des Krieges stattfindet, ist ein gutes Zeichen. In diesem Sinne ist es auch für die Acts etwas sehr Besonderes. Bei den ukrainischen Acts haben wir jede*n gebucht, den wir buchen konnten. Im Grunde haben wir alle an Bord geholt, die verfügbar sind. Ich schätze, dass wir am Ende etwa 100 Acts haben werden. Es ist aber dennoch ein sehr viel kleineres Festival als das, was wir bisher hatten.

Was ist mit internationalen Acts, die beim Atlas Festival auftreten?
Mit internationalen Acts ist es wirklich schwierig, wie man sich vorstellen kann. Es gibt natürlich gleich mehrere Probleme. In erster Linie sind es die Agenturen der Künstler*innen. Die meisten von ihnen haben keine Ahnung, dass die Live-Musikszene in der Ukraine eigentlich sehr lebendig ist und boomt. Es gab schon internationale Artists, die in Lwiw oder Kyjiw gespielt haben. Das waren unglaubliche Auftritte, denn für das Publikum war das der Hammer. Das haben wir aktuell nicht mehr - dass jemand bereit ist, in die Ukraine zu kommen, um uns zu unterstützen und Musik zu machen, wohl wissend, dass man hierhin kommt und sein Leben riskiert.
Für Atlas haben wir bis jetzt drei internationale Acts. Erst kürzlich haben wir unsere internationalen Headliner*in bekannt gegeben: Sharon den Adel von Within Temptation. Sie wird allein kommen und die Musik der Band mit einem Orchester und einem Chor spielen. Das Programm dafür wurde von einer jungen ukrainischen Komponistin, Maria Yaremak, geschrieben. Im Grunde genommen macht Sharon eine sehr schöne symbolische, symphonische Version des Albums „The Black Symphony“. Es ist immer noch ein Metal-Album, aber mit einem Orchester aufgeführt, wird es mehr orchestral, klavierbetont, sehr filmisch, sehr episch, sanft, und zugleich sehr kraftvoll sein. Und die Leute werden dieses Programm zum ersten Mal auf dem Festival hören.
Außerdem ist da die litauische Band Beissoul & Einius. Sie haben schon viele Male auf dem Festival gespielt, fast jedes Jahr. Als wir sie ansprachen, sagten sie: "Oh, natürlich lieben wir euer Festival. Und als wir hörten, dass es während des Krieges stattfindet, wollten wir natürlich auch dabei sein“. Es wird zudem die japanische Band Heavenphetamine auftreten.
Also ja, wir haben die Niederlande, wir haben Japan und wir haben Litauen. Ich bitte zu bedenken, dass wir erst zwei, drei Monate vor dem Festival angefangen haben, Bands anzufragen. In dieser verrückten Tournee-Welt funktioniert das einfach nicht. Man muss ein Jahr vorher auf die Leute zugehen, und das unter normalen Bedingungen. Und wir fragen an mit: "Könnt ihr bitte auch innerhalb von zwei Monaten unter den Raketen auftreten? Wir werden euch auch nicht annähernd das zahlen, was ihr anderswo in Europa bekommt". Aber man erwartet dann auch nicht wirklich viele Antworten, die sagen: "Ja, wir lieben das."